Augsburger Allgemeine (Land West)
Im Reich der Naturburschen
In der Waldregion Värmland entfliehen Urlauber dem Rest der Welt. Aber die Einsamkeit täuscht – irgendwo verstecken sich immer neugierige Beobachter
Würde jemand in Värmland morgens aufwachen, aus seiner Hütte steigen und einfach nur geradeaus gehen, würde er bei seiner Wanderung wohl kaum einen anderen Menschen treffen. Er streift durch Wälder voll kräftigem Grün und skandinavischer Wildnis. Vorbei an den Pfaden wilder Tiere und den unzähligen Seen Värmlands. Värmland, das „warme Land“in der schwedischen Landessprache. Doch besser lässt sich „varm“als gemütlich oder herzlich übersetzen. Auf eine seltsame Weise vermittelt die Wildnis ein Gefühl der Geborgenheit. Dichte Baumreihen schirmen einen bei Wanderungen durch den Wald von der Außenwelt ab. Weicher Boden, bestreut von Fichtennadeln und Birkenblättern, dämpft das Geräusch der eigenen Schritte. Und man ist allein. Allein mit seinen Gedanken, allein mit der Natur. Oder nicht so alleine, wie man vielleicht glaubt. Aber dazu später mehr.
Über die ganze schwedische Region Värmland, ein Gebiet so groß wie Thüringen, verteilen sich 280000 Menschen. Denen zu entfliehen, ist keine Herausforderung. Die Värmland-Schweden sind darin wahre Meister. Beinahe jeder Zweite hat eine kleine Sommerhütte irgendwo im Wald, einen Rückzugsort in der Wildnis. Einige gehen sogar so weit, sich komplett vom Stadtleben zu verabschieden. Einer davon ist Thomas Peterson. Der sportliche Schwede hatte für seinen Geschmack schon genügend Aufregung im Leben. Jahrelang war der große, muskulöse Mann mit kurz geschorenem Haar beim schwedischen Militär, hatte mehrere Einsätze im Ausland, etwa in Afghanistan. Nach dem Ende seiner Militärzeit sehnte er sich nach seiner Heimat, Värmland. Seinen Lebensunterhalt wollte er zunächst als Zimmermann bestreiten – seine Familie schenkte ihm ein Waldstück, aus dem er sein Holz holen konnte. Aber Thomas sah in dem Stück Wildnis mehr als nur eine Holz-Quelle. „Ich fing an, im Wald einen Baumstamm auf den nächsten zu schichten. Und damit habe ich einfach weitergemacht“, sagt er. Inzwischen ist das mehr als zehn Jahre her. Die Hütten, die er im Lauf der Jahre gebaut hat, vermietet er an Touristen. „Naturbyn“, nennt er seine kleine Waldsiedlung, auf Deutsch Naturdorf.
In den Häuschen aus Brettern und Baumstämmen schläft es sich ungewohnt. Städter vermissen den nächtlichen Geräusch-Cocktail aus aufheulenden Automotoren und feiernden Nachtschwärmern. Stattdessen: rauschende Blätter im Wind. Ein leises Rascheln in einem Busch. Ist da jemand? Ein kurzer Blick aus der Hütte – keine Menschenseele. Normalzustand in Värmland. Aber das Rascheln ist noch da, verklingt kurz darauf in der Ferne. Da war etwas. Vielleicht ja ein Elch – die soll es hier geben. Zu sehen ist aber nichts mehr. Die Frage nach dem Verursacher hält einen noch lange wach.
Nach einer ereignisreichen Nacht startet der nächste Tag mit einem Abenteuer. Rein geht es in eines der Kanus, die am nahe gelegenen See liegen. Wobei schon das Einsteigen eine Herausforderung ist. Die schmale Konstruktion zittert nervös auf dem Wasser, sobald man nur einen Fuß hineinsetzt. Mit einem beherzten, eingeschränkt grazilen Sprung gelingt die Landung auf der Sitzbank. Das Kanu liegt so tief im Wasser, dass der See nur ein paar Zentimeter unterhalb der Bordkante liegt. Jetzt keine hektischen Bewegungen. Langsam das Paddel eintauchen, durch das Wasser ziehen, wiederholen. Nach ein paar Minuten stimmt der Rhythmus, die Bäume am Ufer ziehen immer schneller an einem vorbei. Jeder Paddelschlag schenkt mehr Selbstvertrauen – das Gefühl, in der nächsten Sekunde im Wasser zu landen, rückt angenehmerweise in den Hintergrund. Der misstrauische Blick auf die Bord- kante schweift ab in die Natur. Über den See, auf dessen Oberfläche das morgendliche Sonnenlicht tanzt. Und über den Waldrand, dessen Grün sich in hundert verschiedenen Schattierungen zeigt. Thomas hatte gesagt, dass sich dort manchmal Elche blicken lassen. Heute aber keine Spur. Der Blick geht zurück zum See. Auch dort kann man mit viel, viel Glück einen Elch erspähen – die gut 500 Kilogramm schweren Hirschverwandten sind nämlich hervorragende Schwimmer. Sogar tauchen können sie – sechs Meter tief, um sich am Gewässergrund abzukühlen. Aber auch hier keine Spur vom Elch.
Was also tun, wenn der Elch nicht zu einem kommt? Logisch, man kommt selbst zum Elch. In „Värmlands Älgpark Ekshärad“hat sich ein Anbieter auf dieses Erlebnis spezialisiert. Die Kennzeichen der Autos, die vor dem Eingang warten, verraten die Herkunft der Besucher. Deutschland, Norwegen, Dänemark, Russland Die Idee, zum Elch zu kommen, ist eben wirklich naheliegend. Knapp 30 Menschen warten auf ihren Tourguide, nur mit ihm darf man durch den Park. Um die Besucher vor den Tieren zu schützen. Und die Tiere vor den Besuchern. Im einsamen Värmland wirken die 30 Wartenden wie eine Menschenmasse.
Der Elchpark bietet Touren an verschiedenen Gehegen vorbei. Wer im frühen Juli kommt, kann mit etwas Glück ein Jungtier bestaunen. Die Elchkuh Klara hat schon einige Töchter und Söhne zur Welt gebracht. Ihr jüngster Sprössling ist erst wenige Tage alt. Er traut sich noch nicht an die Besucher heran. Während Klara die Urlauber beschnüffelt, versteckt sich ihr Junges im Gras und ruft mit einem leisen, kläglichen Fiepen nach seiner Mama. Tourguide James Gegg – halb Brite, halb Schwede, voller Naturbursche – verrät Besuchern nicht nur viel über Elche, sondern gibt auch Tipps, wie man sie in freier Wildbahn entdecken kann. Beste Chancen bieten Waldränder oder Ufer von Seen. „Der Elch ist der König des Waldes. Und als solchen sollte man ihn auch respektieren“, sagt James.
Sein Hinweis ist nett gemeint, aber eigentlich überflüssig. Als die Besucher im Gehege von Emil stehen, flößt allein seine Anwesenheit Respekt ein. Der sieben Jahre alte Bulle überragt den etwa 1,80 Meter großen James deutlich. Einige wagen sich vorsichtig an den Bullen heran, streicheln sein dichtes, weiches Fell und seine Elchschaufeln. „Fühlt sich an, als wäre sie mit Samt bezogen“, murmelt ein deutscher Tourist. Aus einem Eimer kann man Emil füttern. Er kommt so nah, dass sein warmer Atem auf der Haut zu spüren ist. Aber sein Atem riecht nach nichts, ebenso wenig wie sein Fell. Elche haben keinen Geruch. Ein Ergebnis der Evolution, um Jungtiere wie Klaras Kleinen vor Räubern zu schützen.
Raubtiere? Im friedlichen Värmland? Keine Seltenheit, sagt James. Bären seien inzwischen selten geworden, aber Luchse und Wölfe leben heute noch in den meisten Waldabschnitten. Mit Einsamkeit ist es also doch nicht so weit her. Die Erinnerung geht zurück an die Nacht in Thomas’ Hütte. Das war also der Verursacher des Geräusches. Wölfe machen nach Möglichkeit einen großen Bogen um Menschen. Aber der nachtaktive Luchs… Was es genau war, behält der Wald als sein Geheimnis. Aber die Verdächtigen sind nun zumindest eingegrenzt.
Nach so viel Elch, Wald und Menschenleere schadet ein wenig Zivilisation und Kultur nicht. Die schwedischen Naturburschen haben auch einen Sinn für Edles, was die Herrenhäuser Värmlands beweisen. Von außen machen die Gebäude, viele im 19. Jahrhundert errichtet, überraschend wenig her – wuchtige Bauten, verkleidet mit weiß gestrichenen Brettern. Der Kontrast zu den Innenräumen ist krass. Die Einrichtung erinnert entfernt an einen englischen Salon in der Viktorianischen Zeit. Polstermöbel mit dunklem Holz und edle Perserteppiche zieren das Interieur. An den Wänden erheben sich mannshohe Bücherregale – Värmland legt Wert auf seine literarische Tradition, immerhin wurde hier unter anderem die Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf geboren, vielen bekannt durch ihre Geschichte über den kleinen Nils Holgersson und die Wildgänse. In einem Herrenhaus bei dem Städtchen Sunne kam sie zur Welt, Inspiration holte sie sich in der Natur Värmlands.
Hinter den Herrenhäusern stecken oft spannende Geschichten. Marianne Krönsjö hat das Haus „Ulvsby“bei Sunne vor 15 Jahren gekauft. „Mein Mann hat damals nur gesagt, dass ich spinne“, erzählt Marianne ihren Gästen gut gelaunt. Aber sie wollte schon immer ein Herrenhaus haben und als Hotel führen – und mit schwedischer Sturheit hat sie sich durchgesetzt. Von ihrem alten Beruf – Autohändlerin – wechselte sie zur Hotelmanagerin. Dass ein Teil des Gebäudes einst ein Gefängnis war, stört sie nicht. Ein gutes Omen lag allerdings nicht auf dem Nebenbau – vor zwei Jahren, am Morgen vor Heiligabend, brannte das ehemalige Gefängnis komplett ab. Aber Marianne ließ sich davon nicht kleinkriegen, heute ist der Neubau des Gebäudeteils schon fast fertig.
In einem Bett der Herrenhäuser schläft es sich anders als in Thomas Petersons Holzhütten – hier lassen einen keine Tiergeräusche aufhorchen. Aber Marianne versichert, dass im Haus ein Geist wohnt – der Geist des Erbauers, den manche Menschen in seinem alten Lesesessel sehen können. In Schweden ist man also doch niemals völlig allein.