Augsburger Allgemeine (Land West)
Wandern zwischen Sommer und Herbst
Zuerst will diese Etappe gar nicht beginnen – doch dann führt sie zu spannenden Menschen und direkt in die Wildnis. Eine Tour mit Regenschirm und nassen Füßen, von Kleinaitingen bis Königsbrunn
Landkreis Augsburg An diesem Tag scheint der Sommer an seine Grenze zu stoßen. Ein grauer Wolkenteppich beregnet das ganze Lechfeld. Durchs Wasser waten? Zehn Kilometer, von Kleinaitingen bis Königsbrunn? Lieber erst Proviant besorgen für diese Etappe, die Minuten vertändeln und auf bessere Zeiten hoffen. Während der Regen auf die Hauptstraße tropft und sich der Bordstein in den Pfützen spiegelt, steht am Wegrand die Tür zu einem kleinen Laden offen.
Ich trete ein, schlängel mich vorbei an handgeschriebenen Angebotsschildern, am SchreibwarenTisch neben dem Obststand und dem Zeitschriftenregal, bis zur Gebäcktheke. Bei dem Mann, der im Bäckergewand an der Kasse steht, fällt schnell der Groschen. „Ach, sie sind von den Grenzgängern, oder?“, fragt Markus Bichler. „Für mich ist die Zeitung eine Gute-Nacht-Lektüre. Ich komme nur abends zum Lesen.“Denn tagsüber hat er sein Geschäft geöffnet, von 6 bis 18 Uhr.
Diesen Traum von einem TanteEmma-Laden hat sich Bichler vor elf Jahren in Kleinaitingen erfüllt, gemeinsam mit seiner Frau. „Wo einen die Liebe halt hin verschlägt“, sagt er. Denn ursprünglich stammt er aus einem Dorf, irgendwo östlich von Friedberg. Bleistifte und Kartoffelsalat kauft Bichlers nächste Kundin – und das sagt schon viel über diesen Laden. Leberkäs-Cordon-bleu steht heute auf dem Mittagsmenü, hinter der Bäckerei-The- nimmt Bichler minütlich Bestellungen auf.
Vor dem Kühlregal treffe ich Marianne Fendt – Hand in Hand mit ihrer Enkelin Lea-Marie, die an ihrem Schnuller nuckelt. „Das ist hier im Dorf das einzige Lädele“, sagt Fendt. Sie kauft hier oft ein. „Für die Enkelin gibt’s immer was Süßes. Oder ein bisschen Wurst.“Ob sie denn von hier sei? „Ja, wir sind zwei echte Kleinaitingerinnen“, sagt Fendt.
Auch ein Bistro gehört zu Bichlers Laden. Doch die Sonnenterrasse des Ladens wird an diesem Tag wohl geschlossen bleiben – jetzt muss die verwässerte Wanderung beginnen. Sie führt entlang von Bauernhäusern, verlassenen Sandkästen und alten Kaugummiautomaten. Doch die Stimmung am Straßenrand scheint prächtig: strahlende Gesichter, überall. Oder zumindest an jeder zweiten Laterne. Reihenweise lächeln die Politiker von ihren Plakaten und trommeln zum Wahlkampf. Doch es ist ein hölzernes Ortsschild, das mich aus dem Ort verabschiedet: „Pfüa Gott“, dann folgen Felder, die der Herbst geteilt hat. Rechts die Stacheln von abgeerntetem Mais, links blühender Kohl.
Tristesse und Stille – doch am Bahnübergang von Oberottmarshausen regt sich etwas. Ein Feuerwehrauto riegelt den Verkehr Richtung Wehringen ab. Ein Wagen ist irgendwo auf der Strecke mit einem Traktor kollidiert. Hinter dem Einsatzwagen, an den Gleisen, stehen drei Männer in Warnwesten vor ei- nem ungewöhnlichen Zug und legen eine Pause ein. „Das ist Lena“, sagt Christopher Missel. Lena ist quietschgelb und fährt auf Schienen, um Schienen zu verlegen. Die Gleisarbeiter stellen sich als Manuel Vogl und Carsten Nendziak vor. Bis nach Bobingen arbeiten sie sich vor. „Den Kies verdichten, die Gleise neu gestalten“, erklärt Nendziak. Missel, der Bauüberwacher: „Ich bin schon ganz zufrieden mit den Männern.“Und wie geht es voran? „Langsamer als Schrittgeschwindigkeit“, sagt Missel. „800 Meter pro Stunde. Das ist schon ganz gut“, sagt Vogl.
Viel schneller als Lena komme ich nicht voran. Keine 200 Schritte weiter spaziere ich in eine idyllische Szene. Ein älterer Herr mit Cord-Hut und Blaumann steht am Stalltor eines Bauernhofs. Er zupft an den Schnüren eines Strohballens – und eine graue
Katze spielt mit dem anderen Ende des Garns. Der Mann lugt unter der Hutkrempe hervor und erke zählt: „Ich arbeite hier seit 68 Jahren.“Er stellt sich als Robert Wiedemann vor und ruft aus dem Kuhstall den Altlandwirt Ludwig Reiter herbei. Der lächelt und erinnert sich: „Er ist schon 84. Als er auf den Hof kam, da war ich gerade einmal fünf, sechs Jahre alt.“40 Milchvieh und 30 Jungtiere bewirtschaftet der Hof, erzählen die Männer. Und das Vieh macht sich mit Geräusch und Geruch bemerkbar. „Ja sicher gibt es noch einige Bauern in Oberottmarshausen, aber immer weniger Milchvieh“, sagt Wiedemann. Der Alt-Landwirt Reiter denkt indessen an seinen Sohn, der den Betrieb führt. Daran, wie es in Zukunft weitergehen soll. Und ob es nicht doch klüger wäre, auf Ackerbau umzusatteln. Zunächst zieren sie sich – doch die beiden Männer stehen für ein Erinnerungsfoto bereit.
Ich nehme dieses Bild mit auf den Weg – und auch eine dezente Duftnote von Kuhdung und Stallgeruch. Der verfliegt jedoch bis zur Mittagspause in „Resi’s Jägerhaus“. Auf der Speisekarte der urigen Wirtschaft kündigt sich der Herbst an: Pfifferlinge, in allerlei Variationen. Am Nebentisch sitzt ein Trupp der Bundeswehr, der hier in voller Uniform einkehrt.
Mein Marsch geht weiter und erst jetzt setzt es ein, das Wander-Gefühl. Die nassen Füße fühlen sich schwerer an als der Rucksack, der schon viele Kilometer gesammelt hat. Zwischen mir und dem Lech liegen jetzt Wälder, Pferdekoppeln und die Landkreisgrenze. Die Pfade, auf denen ich wandere, heißen Grenzweg und Waldstraße. Der Duft von Kuhweiden ist einem Lüftchen von Pferdegeruch gewichen.
Am Rande einer Wiese, beim Königsbrunner Fohlenhof, steckt ein vergilbtes Schild: „Landschaftsschutzgebiet“– und wenig weiter stoße ich an die Grenzmarke zum Landkreis Aichach-Friedberg. Ein verwunschenes, altes Haus entdecke ich weiter nördlich. „Betreten des Grundstücks verboten“– doch das kümmert die Hasenschar wenig, die unter der Sperrung hindurch hoppelt.
Das Ende der Etappe rückt näher. Immer weiter geht es Richtung Norden, an der Ostgrenze von Königsbrunn, entlang einer belebten Straße bis zu einem Waldspielplatz. Dort lege ich meinen Rucksack auf einem Bänkchen ab. Hinter mir liegen Begegnungen, Natur und Land – und wohl auch der Sommer.