Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Frage der Woche Auf die Bahn schimpfen?
Natürlich darf man auf die Bahn schimpfen. Auf Partys nur politisch korrekt über das Wetter zu plaudern, ist doch langweilig. Und beim Thema Bahn hat schließlich jeder eine Geschichte beizutragen: Vier-Stunden-Verspätung, unfreundliches Personal, überfüllte Züge, Bäume auf Gleisen, Schneechaos, defekte Klimaanlage, um nur ein paar Dinge aus dem Schienenkosmos zu nennen. Damit schimpft man ja nicht auf die Eisenbahn an sich, die zweifelsohne eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit ist. Sondern auf die Deutsche Bahn. Jenes ehemalige Staatsunternehmen, das heute laut Statista zu den vier größten privaten Arbeitgebern Deutschlands gehört und ein riesiges Schienennetz besitzt, verwaltet, betreut, unterhält. Das bietet natürlich wieder Schimpfstoff für böse Partyzungen weil zu groß, zu unübersichtlich, zu träge, zu bürokratisch – und weil es natürlich auch in einem Großkonzern an allen Ecken und Enden menschelt.
Freilich könnte man auch drüber hinwegsehen, wenn der Zug, weshalb auch immer, mal wieder zwei Stunden länger braucht, ein Buch lesen und die geschenkte Zeit genießen. Aber durch die Verspätung entsteht neuer Stress, weil mitunter Termine verschoben werden müssen, Kosten anfallen, auch Menschen außerhalb des Zuges warten müssen. Natürlich ändert Schimpfen an der Situation an sich nichts. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Und außerdem soll es ungesund sein, Ärger runterzuschlucken. Magenbeschwerden, Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen können die Folgen sein. Zu viel und häufig Ärgern ist allerdings auch nicht gut. Sollten sich also die Negativerlebnisse mit der Bahn häufen, empfiehlt sich vielleicht nach kurzem Schimpfen einfach eine kleine Bahnfahrpause.
Ja ja, es gibt täglich Dinge, die schieflaufen bei der Bahn. Umgekehrte Wagenreihung, Anschluss verpasst, Reservierungssystem ausgefallen, Verspätungen. Aber ist das wirklich Grund genug für das reflexartige Dauer-Geschimpfe auf „die“Bahn? Wie kommt es, dass der gemischte deutsche Volkschor immer nur dieses eine selbe einstrophige Jammerliedchen singt? Bei der Bahn, so der Eindruck, sind sich alle gerne einig: Chaotenladen, organisierte Unpünktlichkeit, zu voll, zu teuer… Mit diesem billigen
Kitt verkleben sich die Leute gegenseitig die Hirne.
Im Auto, ausgebremst durch Staus, durch Umleitungen, durch Fahrbahnverengungen und was es sonst noch täglich gibt, bleibt der Frust drinnen. Kein kollektives Bashing. Ist halt so. Und erst recht beim Fliegen: Unglaublich, mit welch demütiger Schicksalergebenheit Reisende hier das absurde Schikanensystem und die Warterei vor dem Abflug und nach der Landung hinnehmen. Eine Stunde Flug – und dann 50 Minuten Passkontrolle, etwa in München, wo die uniformierte Bräsigkeit in zwei Kabinen sitzt und Verspätung geradezu zelebriert. Gibt es ein kollektives Geschimpfe auf die Fliegerei? Dagegen Bahnfahren: ein Triumph der Freiheit. Offener Zugang, freie Wahl, gelebte Niederschwelligkeit. Kein Fahrgast muss sich wie ein potenzieller Bösewicht fühlen und wird auch nicht so behandelt oder gegängelt. Du kommst überall hin – manchmal mit Verspätung. Und? Dafür ist das System unkompliziert und weitverzweigt. Wenn es unangenehm wird, liegt das meist gar nicht an der Bahn, sondern an Mitreisenden, die in Handys quaken oder ihr Gepäck über die Sitze verstreuen.
Auf die Bahn schimpfen? Einfach mal verkneifen und aus dem Zugfenster schauen. Geht gut.