Augsburger Allgemeine (Land West)
War Kaschoggis Tod ein Versehen?
Türkei Präsident Erdogan lässt die saudische Botschaft durchsuchen. Doch entscheidende Fragen bleiben weiterhin unbeantwortet – auch, weil für alle Seiten viel auf dem Spiel steht
Istanbul Die Suche dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Nach mehr als neun Stunden verließen Experten der türkischen Spurensicherung vor Sonnenaufgang am Dienstag das Gebäude des Konsulats von SaudiArabien in Istanbul. Ob sie neue Hinweise auf den Tod des vermissten saudischen Dissidenten Dschemal Kaschoggi gefunden hatten, blieb offen. Doch unter dem wachsenden Druck der Ermittlungen und internationaler Proteste bewegt sich die Führung in Riad inzwischen auf das Eingeständnis zu, dass Kaschoggi im Konsulat starb – für den Ölstaat am Golf und seinen starken Mann, Kronprinz Mohammed bin Salman, könnte der Fall aber trotzdem glimpflich ausgehen.
Kaschoggi war am 2. Oktober von einem Besuch in dem Konsulat im Istanbuler Stadtteil Levent nicht mehr zurückgekehrt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte, man schaue sich mögliche Spuren „giftiger Substanzen“in der Botschaft genauer an. Die seien überstrichen worden. Er hoffe auf baldige Ergebnisse, die helfen können, „eine Meinung zu bilden“. Die Ermittler arbeiteten intensiv daran, herauszufinden, was genau im Konsulat passiert sei. Nach Medienberichten hatten Ermittler unter anderem Proben aus dem Garten des Konsulats mitgenommen. Außerdem seien zwei Müllwagen der Gemeinde ins Konsulat gefahren.
Schon vor den Durchsuchungen war die ursprüngliche saudische Darstellung, Kaschoggi habe das Konsulat lebend verlassen, kaum noch zu halten gewesen. Der Sender CNN und die New York Times mel- deten, die Regierung in Riad wolle offiziell einräumen, dass Kaschoggi tatsächlich im Konsulat starb – weil ein Verhör aus dem Ruder gelaufen sei. Die Verantwortung dafür solle auf Mitarbeiter von Kronprinz Mohammed bin Salman abgewälzt werden, um den Thronfolger aus der Schusslinie zu nehmen.
US-Präsident Donald Trump, der sich um enge Beziehungen zu Saudi-Arabien bemüht, deutete an, dass Kaschoggi möglicherweise ohne Auftrag aus Riad ermordet worden sei. Mit dieser Erklärung könnte er begründen, warum er auch weiter zu Saudi-Arabien hält. Auch ein kurzfristig anberaumter Besuch von US-Außenminister Michael Pompeo in Riad am Dienstag deutete darauf hin, dass Washington nach einem gesichtswahrenden Ausweg für die saudische Regierung sucht. Pompeo schlug auffallend sanfte Töne an. Er habe dem saudischen König für die starke Partnerschaft mit den USA gedankt – und für dessen Einsatz für eine gründliche, transparente und schnelle Aufklärung im Fall Kaschoggi.
Auch die Türkei könnte versucht sein, sich mit einer solchen Version zufriedenzugeben. Präsident Recep Tayyip Erdogan telefonierte mit dem saudischen König Salman und vermied öffentliche Schuldzuweisungen gegen Riad. Saudische Regierungsvertreter bauten offenbar darauf, dass Trump und andere Spitzenpolitiker sich das Wohlwollen Riads erhalten wollten.
Dass die US-Regierung bereit ist, den Fall Kaschoggi nicht zum Anlass für eine ernste Krise in den Beziehungen zu Riad zu machen, liegt an der wichtigen Rolle der Saudis als Verbündete. Diese Bedeutung ist mit dem Aufstieg von Thronfolger Mohammed noch gestiegen.
Obwohl der Kronprinz konservative Regeln wie das Fahrverbot für Frauen abgeschafft hat, will er mit dem Umbau keine demokratischen Reformen verbinden. Schon vor Kaschoggis Verschwinden war MbS, wie der Thronfolger genannt wird, mit der Verhaftung von Widersachern und Aktivisten aufgefallen. Kritiker sprechen von einer „Entwicklungsdiktatur“, die eine Modernisierung des Staates ohne mehr Demokratie anstrebe.
Das Umbauprogramm des Prinzen entspricht US-Interessen. Washington wünscht sich ein SaudiArabien, das nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung für den weltweiten Ölhandel stabil bleibt, US-Gegner in der Golf-Region bekämpft und Israel stärkt – der Kronprinz, ein enger persönlicher Freund von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, ist bei all diesen Punkten ein wichtiger Mann.
Zugleich ist das Verhältnis zwischen der Türkei und Saudi-Arabien angespannt. Die Regierung in Ankara ging zwar diskret mit ihren Erkenntnissen um, lässt aber Informationen über den angeblichen Mord scheibchenweise und über anonyme Zeugen an die US-Regierung und Medien weitergegeben. Wieso, dazu gibt es vielfältige Vermutungen.
In der derzeitigen verzweifelten wirtschaftlichen Lage könnte die Türkei darauf hoffen, dass der reiche Ölstaat Saudi-Arabien dem Land mit Investitionen oder niedrig verzinsten Darlehen hilft. Manche Beobachter mutmaßen, die Türkei fürchte, es sich mit Riad zu verscherzen. Noch immer ist unklar, aus welcher Quelle Informationen zu dem Fall durchsickern. Mehrfach tauchte die Vermutung auf, die Türkei könnte das Konsulat verwanzt haben. Das brächte die Regierung nicht nur gegenüber den Saudis in Schwierigkeiten.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, verlangte unterdessen die Aufhebung der Immunität von allen saudischen Diplomaten in der Türkei, die Ermittler befragen wollen.