Augsburger Allgemeine (Land West)
Sie stieg den Männern auf die Zehen
In der Volksschule lernte sie Häkeln, Stricken und was Mädchen vor hundert Jahren sonst so als Bildung angeboten wurde. Nach der Handelsschule wurde sie Fremdsprachen-Sekretärin. Dann, als die Männer singend in den Ersten Weltkrieg zogen, bekam sie als Frau eine Stellung bei der Post. Das waren die bescheidenen Anfänge der Frau, die in Deutschland die Gleichberechtigung für sich und alle Frauen durchboxte.
Elisabeth Selbert holte alles nach, was sie brauchte, um Rechtsanwältin zu werden. Eine politische Rechtsanwältin. Als Sozialdemokratin hatte sie einen Traum: Gleiche Rechte für Frauen in einem fortschrittlichen Deutschland. Die Nazi-Jahre wurden zum Albtraum, doch dann schien wirklich eine neue Zeit für ihre Geschlechtsgenossinnen anzubrechen. Die klugen Köpfe, die 1948 am Chiemsee die Grundlagen für eine künftige deutsche Verfassung formulierten, waren zwar ein reiner Männer-Klub. Aber sie würden doch nicht auf der alten, halbherzigen Weimarer Formulierung beharren, die lediglich sagte: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“? Doch genau das taten sie. Elisabeth Selbert war entsetzt und versuchte, die Herren am See etwas kühner zu stimmen. Aber für die war das Thema Gleichberechtigung eher Nebensache. Nicht so für die Frauen. Denn in der Praxis galt trotz der „gleichen Rechte und Pflichten“immer noch die Rechtsprechung der Kaiserzeit. Der Mann konnte in Familienangelegenheiten allein entscheiden, sogar darüber, ob seine Frau berufstätig sein durfte. Um das zu ändern, forderte Elisabeth Selbert eine schärfere Formulierung für das neue Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“Basta. Männer und Frauen gleichberechtigt? Das ging den Herren dann doch zu weit. Also wurde Elisabeth Selbert noch im gleichen Jahr zur Wanderpredigerin. Sie kämpfte landauf, landab für ihre Formel zur Gleichberechtigung und sammelte viele Frauengruppen hinter sich. Dann, 1949 im Parlamentarischen Rat, in dem sie eine von vier Frauen war, setzte sie – allerdings erst im zweiten Anlauf – ihre Formel durch. So öffnete sie den Weg in die echte Gleichberechtigung. Die Mutter der Gleichberechtigung ist fast vergessen. In den Bundestag schaffte sie es nie. Sie hat wohl zu vielen Männern auf die Zehen getreten.