Augsburger Allgemeine (Land West)
Die unterschätzte Gefahr
Eine neue EU-Studie rüttelt auf: Die Bedrohung durch multiresistente Keime ist bereits so hoch wie durch Influenza, HIV und Tuberkulose zusammen. Jedes Jahr sterben Tausende
Augsburg Nur in Ausnahmen dringen die Fälle an die Öffentlichkeit, in denen sich Menschen ausgerechnet im Krankenhaus mit lebensgefährlichen Krankheitserregern anstecken. Etwa wenn es in Kliniken wie in Bremen, Berlin, Leipzig oder Kiel zu größeren Ansteckungswellen mit multiresistenten Keimen kam, bei denen dutzende Menschen starben, darunter drei Babys auf einer Frühchenstation. Die meisten Schicksale aber verbergen sich hinter anonymen Zahlen in den Statistiken über Infektionen, bei denen normale Antibiotika nicht mehr helfen. Eine neue Studie der EU-Gesundheitsbehörde ECDC enthüllt, dass das Risiko durch multiresistente Keime in ganz Europa deutlich angestiegen ist und eine besorgniserregende Dimension erreicht hat.
Die Zahl der in Europa registrierten ernsthaften Infektionserkrankungen durch multiresistente Keime stieg in dem untersuchten Zeitraum von 2007 bis 2015 um beinahe das Dreifache von 230000 auf über 670000 Fälle im Jahr. Damit habe die Zahl der durch antibiotikaresistente Bakterien ausgelösten Krankheiten in Europa bereits die Größenordnung erreicht, wie die jährlich registrierten Infektionen echter Influenza, Tuberkulose und HIV zusammen, warnen die Experten: „Infektionen durch antibiotikaresistente Bakterien bedrohen die moderne Gesundheitsversorgung“, sagt ECDC-Studienchef Alessandro Cassini. Sein Team schätzt, dass drei Viertel der Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien in Krankenhäusern oder anderen Gesundheitseinrichtungen passieren. Mehr als die Hälfte der Fälle wären durch bessere Hygiene- und Präventionsmaßnahmen vermeidbar.
Das Infektionsrisiko ist demnach mit Abstand am größten in italienischen Gesundheitseinrichtungen. In Italien registriert die EU-Gesundheitsbehörde mit rund 11000 Todesfällen die höchste Sterberate und mit über 200000 Infektionen auch das größte Ansteckungsrisiko. Danach folgt Frankreich mit 125000 Infektionen und 5500 Toten durch multiresistente Keime.
Deutschland liegt mit rund 55 000 Fällen und 2500 tödlich verlaufenen Infektionen, die unmittelbar auf resistente Keime zurückzuführen sind, an dritter Stelle. Die Zahl der EU-Studie liegt damit weit über den 35000 Fällen, die man bislang für die Bundesrepublik angenommen hat. Zudem stecken sich nach Schät- zung des Bundesgesundheitsministeriums bis zu 600 000 Patienten im Jahr auch mit anderen Erregern als multiresistenten Keimen während einer stationären Krankenhausbehandlung an. Zehn- bis fünfzehntausend Menschen sterben demnach jedes Jahr an den Folgen.
Diesen Zahlen zufolge kommen jährlich etwa viermal so viele Bundesbürger durch Krankenhausinfektionen ums Leben, wie es Verkehrstote im Straßenverkehr gibt. Das macht die Herausforderung für das deutsche Gesundheitswesen deutlich – aber auch das Risiko, das vor allem operative Eingriffe mit sich bringen, insbesondere, wenn sie durch andere Therapien vermeidbar wären. Die EU-Studie zeigt aber mit dem Blick auf die multiresistenten Keime auch, dass die Risiken in deutschen Kliniken im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern immer noch relativ geringer sind.
Zwar steht Deutschland bei den absoluten Infektionszahlen an dritter Stelle in der EU. Rechnet man die Erkrankungen aber auf je hunderttausend Einwohner um, liegt die Bundesrepublik mit etwa siebzig Fällen im unteren Viertel: In Italien und Griechenland als den gefährlichsten Ländern ist das Infektionsrisiko demnach mehr als sechsmal so hoch. Allerdings liegt Deutschland schlechter als die skandinavischen Länder sowie die Niederlande, die allesamt seit vielen Jahren einen konsequenten Kampf gegen multiresistente Keime und für bessere Krankenhaus-Hygiene führen.
Multiresistente Keime entstehen dadurch, dass sich Bakterien ständig weiterentwickeln, um zu überleben. Durch die Aufnahme anderer Gene und Mutation entwickeln sie Widerstände gegen eine Vielzahl üblicher Antibiotika. Oft können zwar Spezialantibiotika helfen, doch nur dann, wenn Ärzte das Problem noch rechtzeitig erkennen können.
In Deutschland und vielen EUStaaten gibt es breit angelegte Programme gegen die Bedrohung. Dazu gehört nicht nur eine bessere Krankenhaus-Hygiene. Auch der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast soll eingeschränkt werden, der nachweislich zum Problem resistenter Keime beiträgt. Doch noch immer werden in der europäischen Landwirtschaft mehr Antibiotika eingesetzt als in der Humanmedizin.
Mehr Tote durch Infektionen in Kliniken als im Verkehr