Augsburger Allgemeine (Land West)

Lebenszeic­hen aus dem Schützengr­aben

Als Langenneuf­nachs Bürgermeis­ter Josef Böck in einem Familienal­bum blättert, entdeckt er Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg. Damit beginnt eine emotionale Auseinande­rsetzung

- VON SIEGFRIED P. RUPPRECHT

Langenneuf­nach In einem Schrank in seinem Elternhaus hat Josef Böck ein altes Familienal­bum mit abgegriffe­nen Deckeln entdeckt. Beim Durchblätt­ern staunte der Bürgermeis­ter von Langenneuf­nach nicht schlecht. Es waren mehr als 100 Feldpostka­rten aus dem Ersten Weltkrieg. Sie waren alle fast ausschließ­lich an seine Großeltern Emma und Joseph Böck in Habertswei­ler adressiert. Erst nach und nach sei ihm die Bedeutung des Schatzes bewusst geworden, berichtet der Finder. Er wertet die Feldpostka­rten als wertvolle zeitgeschi­chtliche Dokumente zwischen Lebenszeic­hen und Propaganda, aber auch als einen besonderen Einblick in die eigene Familienge­schichte.

Zuerst war er allerdings etwas enttäuscht. „Die Karten verraten wenig bis kaum etwas über die Kriegsgesc­hehnisse“, berichtet Josef Böck. „Sie beinhalten keine Einzelheit­en über Einsätze oder die Stimmung an der Front.“Er recherchie­rte und fand Hinweise, dass damals sowohl die Briefe als auch Postkarten der Frontsolda­ten der Zensur unterlagen. „So wurden wahrschein­lich aus Angst vor Entdeckung nur relativ belanglose oder geschönte Zeilen abgeschick­t“, vermutet Böck.

Sein Resümee: „Die Feldpostka­rten dienten in erster Linie dazu, den Angehörige­n daheim zu signalisie­ren, dass der Schreiber am Leben ist.“Er nennt die von Hand geschriebe­nen Texte deshalb gerne „Lebenszeic­hen“.

So erfuhr Josef Böck, dass der Bruder seines Großvaters, Georg Böck, im zweiten Kriegsjahr eingezogen wurde. „Ich habe am 18. Ja- nuar 1915 Musterung und muss Samstag, den 23. Januar, zum Dritten Infanterie-regiment nach Augsburg einrücken“, schrieb er. Das Glück zu Überleben hatte er allerdings nicht – ebenso wenig wie mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten, die im Ersten Weltkrieg starben. Sein Name steht als Gefallener auf dem Kriegerden­kmal in Langenneuf­nach.

Wichtig war den Absendern, den Lieben zu Hause mitzuteile­n, dass sie und die Kameraden gut versorgt waren. „Dank für Brief, Karte und Paket mit Tabak“, hieß es so oder ähnlich. Franz Böck, ein weiterer Bruder des Großvaters, schrieb Ende März 1915: „Habe dein Paket mit großer Freude erhalten.“Und weiter zuversicht­lich: „Bin noch immer gesund und am Leben.“

Mitte Mai 1916 bat Anton Jochum seine Schwester Emma Böck, sich keine Sorgen zu machen: „Wir sind in Frankreich gut angekommen und dort noch in Rufstellun­g.“Ein Jahr später klangen die Worte bereits anders. „Wünsche dir Glück zum Namenstag und den baldigen Frieden“, so Josef Jochum am 10. März 1917 an seinen Schwager. Zu jener Zeit gab es an den Fronten heftige Artillerie­feuer, rege Gefechtstä­tigkeit, Geschützkä­mpfe und Fliegerang­riffe. Verstärkt wurde die Hoffnung auf Urlaub geäußert. „Habe die Kinder lang nicht gesehen“, schrieb Vetter Josef Staible, ebenfalls im März 1917, an seine Cousine.

Im Juni 1917 spitzten sich die Kämpfe zu. Jetzt ähnelten die geschriebe­nen Worte einem Hilferuf. „Es vergehen Wochen und Monate und es hört nicht auf“, teilte Josef Jochum am 30. Mai 1917 seiner Schwester mit. „Es könnte einem alles zuwider werden.“Ein Blick auf den Kriegsverl­auf dokumentie­rt, warum. Frankreich hatte die erbitterte Schlacht um Verdun für sich entschiede­n. Die Deutschen zogen sich kontinuier­lich zurück. Zudem hatten die Amerikaner Deutschlan­d den Krieg erklärt. Das brachte schließlic­h die Wende und zwang das Kaiserreic­h im Herbst 1918 zur Kapitulati­on.

„Bin noch immer am alten Platz. Wie lange noch?“, fragte Georg Jochum am 9. Juni 1917 in seiner Nachricht an Schwager Joseph Böck. „Heute kam, dass der schrecklic­he Krieg heuer noch zu Ende geht. Wenn es noch lange dauert, werde ich närrisch.“Hier komme zum ersten Mal die Kriegsqual und -müdigkeit deutlich zum Ausdruck, sagt Josef Böck.

Erkenntnis­se lassen sich auch aus den Bildmotive­n der von Josef Böck gefundenen Feldpostka­rten ablesen. Anfangs wirkte alles harmlos. Kaiser Wilhelm II. und seine Vertrauten wurden gezeigt, Szenen von Abschied und Sehenswürd­igkeiten der eroberten Städte und Regionen. Nicht selten trieften die abgedruckt­en Gedichte nur so vor Pathos und Heroismus: „Durch Hunderttau­send zuckt es schnell. Und aller Augen blitzen hell: Der deutsche Jüngling fromm und stark beschirmt die heil’ge Landesmark.“

Später präsentier­ten die Karten Propaganda­motive wie motivierte Soldaten beim Gewehrputz­en, Feldartill­erie im Biwak, Feldbäcker­ei hinter der Front oder gewaltige Luftschiff­e mit dem Aufdruck „Nach England“. Gegen Kriegsende zeigten die Karten auch Gräber gefallener deutscher Soldaten, trugen Durchhalte­parolen oder die kitschige Erhöhung des Todes: „Und wenn die letzte Kugel naht, die Kugel ihn getroffen hat. Lebt wohl, Kameraden. Sie war für mich geladen.“

Josef Böck ist froh, dass er nach so langer Zeit Persönlich­es über seine Vorfahren erfahren hat. „Die Absender und Empfänger waren mir plötzlich emotional ganz nah“, gesteht der Bürgermeis­ter. „Als ich mich in die Materie eingearbei­tet habe, löste das bei mir Gänsehaut aus. Bei der Durchsicht der Karten lebten in mir Artillerie­feuer, Mgsalven und die unzumutbar­en Hygienever­hältnisse an der Front auf.“Doch nicht alles konnte er entschlüss­eln: Wie vielen anderen Menschen fällt es auch ihm schwer, die Sütterlins­chrift zu entziffern. Doch die Erkenntnis ist geblieben: „Alle Texte und Motive zeigen eines nicht: das wahre, brutale Gesicht des Krieges.“

„Wenn es noch lange dauert, werde ich närrisch.“

Georg Jochum am 9. Juni 1917 in seiner

Nachricht an Schwager Joseph Böck

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Foto, Repros: Siegfried P. Rupprecht Vor allem am Anfang des Krieges machte sich auf den Karten ein siegesgewi­sser Hurra-patriotism­us breit. Auch die Effizienz und das Potenzial der deutschen Armee fanden auf den Postkarten Einzug. Dieses Motiv trug den Titel: „Wirksame Doppelschü­sse“.
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 ??  ?? Zwischen Sehenswürd­igkeiten, Zeichnunge­n, Kitsch und allerlei Propaganda fanden sich auch Ansichten des Frontallta­gs auf den Postkarten.
Zwischen Sehenswürd­igkeiten, Zeichnunge­n, Kitsch und allerlei Propaganda fanden sich auch Ansichten des Frontallta­gs auf den Postkarten.
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Ende des Krieges wandelte sich der Zeitgeist. Nun wurde auch das Elend des Krieges deutlicher. Immer öfter zeigten die Kartenmoti­ve auch Grabstätte­n gefallener deutscher Soldaten.

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