Augsburger Allgemeine (Land West)
Heiß geliebt
Wie ein Augsburger den Glühwein erfand – und warum sein Sohn versucht, ihn für den Genuss immer wieder neu zu retten
Das Faszinierende liegt oft unter einer Schicht des Alltäglichen verborgen. Denn was uns heute als vollkommen normal, als selbstverständlich erscheint, geht in aller Regel darauf zurück, dass ein Mensch irgendwann mal auf eine Idee gekommen ist. Und in der Folge oft auch darauf, was der Erfolg aus dieser Idee gemacht hat. Und darauf, wie die Menschen mit ihren Moden gerade Werte mit Preisen verbinden. Und dann auch noch darauf, was Gerichte so alles entscheiden. Komplizierte Sache also.
Dabei scheint doch zunächst alles ganz einfach. Einer repräsentativen Umfrage nach ist für 85 Prozent der Deutschen heute das Wichtigste an einem Weihnachtsmarkt, dass es dort Glühwein gibt – deutlich vor Lichterketten und Christbäumen. Auch in Augsburg ist gerade Christkindlesmarkt. Und der wichtigste Stimmungsbringer dafür kommt aus einer sterilen Industriehalle.
Die steht an der A 8 im nahen Dasing. Davor parkt gerade ein Tanklastzug, gefüllt mit 26000 Litern Wein. Tag für Tag kommen derzeit bis zu drei davon hier an. Drinnen, in der 4000 Quadratmeter großen Produktionsanlage, läuft das Fließband seit Monaten bereits im ZweiSchicht-Betrieb. Alle Jahre wieder, ab August. 15 Beschäftigte in der Produktion, Ausstoß bis zu 60000 Liter am Tag. Die Lagerhalle nebenan fasst eine Million Flaschen. Glühwein. Auch der „originale“, für warme Gefühle bei Lichterglanz auf dem Rathausplatz. „Herzlich willkommen zum Augsburger Christkindlesmarkt“steht dort auf einem schnörkeligen Empfangsbogen. Auf der Halle in Dasing steht nüchtern: Kunzmann. So wie das leitende Ehepaar auch heißt, Jürgen und Natalie. Und so wie eben jener Mensch, mit Vornamen Rudolf, der da im Jahr 1956 diese eine Idee hatte…
Ja, auch die Römer haben bereits ihren Wein erwärmt und mit Gewürzen verfeinert. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie bestellten heute auf einem Weihnachtsmarkt einen Glühwein und würden daraufhin ausgehändigt bekommen: eine Tasse mit Wein, in der ein kleiner Tauchsieder hängt, und dazu einen Würfel Zucker und einen mit Fertigwürzmischung. Stimmungsbringer? So war das aber damals noch, nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich Kunden in den Wirtschaften auch ihr Bier noch mit einem Sieder wärmen mussten, weil es durch die Lagerung im haltbar machenden Eis doch zu kalt war. Da aber hatte jener Rudolf Kunzmann, eigentlich gelernter Zweirad-Mechaniker, der mit seinem Wein- und Spirituosengeschäft in Augsburg, einem typischen Ein-Mann-Betrieb jener Wiederaufbau-Jahre, diese Wirtschaften belieferte, diese Idee…
Dass er den Glühwein doch auch fertig gemischt und abgefüllt in Flaschen liefern könnte nämlich. Kontaktierte also einen Freund namens Latka aus Nördlingen, der sich mit Gewürzen auskannte. So wurde Kunzmann zum Kunden Nummer eins des Unternehmens von Latka, das bis heute unter dem Namen Destilla natürliche Aromen herstellt. Die erste Glühweinkellerei Deutschlands war geboren – und mögen die Schweden ihren Glögg haben, Deutschlands ist weit vor den angrenzenden Alpenländern das Land des Glühweins.
Jürgen Kunzmann, 54, nun ist der Sohn jenes Pioniers. Und in einer schicken Empfangsgalerie in der heutigen Weinkellerei, die bereits sein Vater in den 60ern nach Dasing verlagerte, hat er das Jahr 1956 als ersten der „Milestones“des Unternehmens an der Wand verewigt. Man kann sich gut vorstellen, wie Rudolf über einen solchen Begriff damals bloß die Stirn gerunzelt hätte. Aber es hat sich ja ohnehin sehr vieles geändert seitdem, auch in diesem Geschäft, das in Dasing zwar auch Wasser und Saft einschließt, aber hauptsächlich auf Heißgetränken fußt und dabei wiederum hauptsächlich dem Glühwein. So viel hat sich geändert, dass sein Sohn Jürgen mit Frau Natalie heute überlegt, ob er seinem eigenen Sohn, der mit jetzt 18 Jahren als ältestes der drei Kinder gerade eine Ausbildung im eigenen Betrieb begonnen hat, diese lebensbestimmende Aufgabe und all die Verantwortung überhaupt noch zumuten sollte. Glühwein, alle Jahre wieder, ganz normal, ganz einfach – eine komplizierte Sache?
Es gibt da eine herrliche Polemik des Publizisten Max Goldt mit dem Titel „Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens“. Darin zieht der nicht nur in Sachen Essen und Trinken äußerst stilbewusste Titanic- und Buch-Autor über Weihnachtsmärkte her und merkt an: Ihm sei ja durchaus begreiflich, dass etwa Coca-Cola vor dem Konsum heruntergekühlt werde, weil so die Aromen in diesem minderwertigen Gesöff möglichst wenig zur Entfaltung kämen; umso irrer mutet es darum für Goldt an, dass die billigste Plörre, die im Glühwein verarbeitet werde, dann auch noch erhitzt werde!
Wer nun aber denkt, er könne Jürgen und Natalie Kunzmann mit dieser Geschichte provozieren, der irrt. Sie lächelt und nickt, er sagt: „Das Vorurteil stimmt ja – das meiste ist Plörre.“Damit ist man mitten in den Komplikationen. Und zunächst wieder beim Vater Rudolf.
Aber nicht etwa, weil der mit seiner Neuschöpfung damals in Konflikt mit dem über die Reinheit wachenden Weingesetz geraten war – das passierte auch dem Sohn später immer wieder, doch dazu gleich mehr. Sondern weil der Vater damals noch einen Bekannten hatte, mit Namen Gerstacker, Sprössling eines Wein- und Spirituosenunternehmens in Nürnberg, heute zuständig für den Original-Glühwein zum Nürnberger Christkindlesmarkt. Auch der hatte sich nämlich damals für Kunzmanns Schöpfung interessiert, sie übernommen – und war dann mit einer besonders billigen Flasche, produziert in Osteuropa, zu ihm gekommen mit der Frage: Ob er ihm den Glühwein auch da hinein abfüllen würde? Der Schwabe verneinte, der Franke machte es selbst – und so kam eben nicht die bald schon für Glühwein typische Kurzhalsflasche in die Welt, so war zudem der bis heute vor allem im unteren Preissegment führende Wettbewerber Gerstacker auf dem Markt.
Und in Märkten und Massen findet sich heute zudem ja Plörre in Pet-Flaschen und Tetra-Packs, vollautomatisiert abgefüllt, hergestellt aus fertigen Flüssig-Gewürzmischungen und obskuren Weinen, die mitunter aus Anbaugebieten in Nordafrika stammen. Nichts Verwerfliches, eine Folge der Marktgesetze halt: Der Kunde will’s, und die Kampfpreise alle Jahre wieder machen in diesem Segment auch gar nichts anderes möglich. Plörre eben.
Jürgen Kunzmann aber, selbst seit 1982 im Geschäft, versteht sich in der Nachfolge des Pionier-Vaters in der Rolle des „Glühwein-Missionars“. Er setzt weiter auf: die neue Idee. In der Mehrzahl. Etwa die Einführung der hochwertigeren, langhalsigeren Literflasche mit eigener Prägung und Bügelverschluss; die Produktion eines auch vor Gericht durchgesetzten Bio-Glühweins, aktuell mit Abstand das erfolgreichste Produkt bei Kunzmann, in Rot und Weiß; die Schöpfung einer Sorte mit mindestens sechs Monate im Barrique-Fass gereiftem Wein; das Anbieten rebsortenreiner Exemplare mit zertifizierten Qualitätsweinen, vom Dornfelder bis zum Chardonnay.
Auch für die Bezeichnung „Winzerglühwein“ist Jürgen Kunzmann vor Gericht gezogen – mit dem Ergebnis, dass so nun nur noch heißen darf, was der Winzer selbst auch abfüllt. Was dem Dasinger also selbst gar nichts brachte. Und ein RoséGlühwein ist durch das Weingesetz gleich komplett verunmöglicht – aber mit Fantasie-Produkten wie „Heißer Hirsch“als Ersatz will sich das Paar erst gar nicht abgegeben.
Rot oder weiß also: Für die unterschiedlichen Glühweine werden zehn unterschiedliche Weinsorten angeliefert. Die 16 zu je nach Produkt unterschiedlich gemischten Gewürze – darunter neben Anis, Zimt, Nelken und Kardamom etwa auch Fenchel und Muskat, Mandeln und Curacaoschalen – müssen wie der Zucker auch in Bio-Qualität beschafft werden, Zitrus aus Sri Lanka. Damit sich die Mühe in der Halle auch in Genuss im Lichterglanz auszahlt, empfehlen die Kunzmanns für den Konsum auch das Weinglas anstelle der Tasse – ja, Herr Goldt, zur Entfaltung des Aromas! Und weil man so am „kirchenfensterbögenförmigen Beschlagen“der Gläser auch die Qualität erkennen könne. Erklärt der über die langjährige Erfahrung zum eigenen Aroma-Designer gewordene Jürgen Kunzmann. Seine Frau Natalie, 40, die übrigens den weißen Bio-Glühwein bevorzugt, ist als ehemalige Anlageberaterin bei der Deutschen Bank die hauseigene Finanzexpertin.
Was das Geschäft angeht: 2019 wird eine neue Lagerhalle gebaut. Die steigende Nachfrage und der immer noch frühere Saisonbeginn in den Supermärkten wird durch immer noch zeitigeren Produktionsbeginn bedient. Von den wärmeren Wintern merken die Glühwein-Macher nichts. Stimmungskonjunktur ist einfach alle Jahre wieder. Eher verlängert sich durch die nach hinten verschobenen Kälteperioden die Nachfrage weiter ins neue Jahr, dann muss nachproduziert werden. Und was den Genuss angeht: Mit gutem Glühwein lässt sich auch ein kalter Aperitif kreieren. Schuss Prosecco rein, Eiswürfel dazu, fertig. So einfach ist das manchmal im Alltag – wenn die nötige Idee da ist.