Augsburger Allgemeine (Land West)
Wann die Verbrecherjagd erlaubt ist
Der Präsident des Landgerichts Kempten, Johann Kreuzpointner, rät im Ernstfall zu Besonnenheit
Wer darf auf Verbrecherjagd gehen und wer nicht? Mit dieser Frage hat sich Johann Kreuzpointner befasst: Er begann seine Justizkarriere 1981 als Richter beim Landgericht Memmingen und arbeitete später als Staatsanwalt in Memmingen und Kempten. Zwischenzeitlich war er zweieinhalb Jahre an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet. Es folgten Stationen als Richter am Landgericht Memmingen, Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft Memmingen, stellvertretender Direktor am Amtsgericht Kaufbeuren, Vorsitzender Richter am Landgericht Memmingen und Leitender Oberstaatsanwalt,
ehe er 2013 Präsident des Landgerichts Kempten wurde. Der promovierte Jurist, der in Mittelschwaben wohnt, ist auch begeisterter Hobby-Historiker: Er hat die Geschichte der Staatsanwaltschaft NeuUlm verfasst.
Dorfbewohner wollen sich 1895 einen mutmaßlichen Einbrecher schnappen: Wo hat eine Verbrecherjagd wie in Hairenbuch ihre Grenzen?
Johann Kreuzpointner: Grundlage für das private Dingfestmachen eines Straftäters ist Paragraf 127 Absatz 1 der Strafprozessordnung. Danach ist, wenn jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird, jedermann zu dessen vorläufiger Festnahme befugt, wenn der Täter der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann. Eine Festnahme ist am Tatort und in seiner unmittelbaren Nähe möglich, aber auch wenn der als sicher anzunehmende Täter sich bereits vom Tatort entfernt hat, wobei der Verfolger – wie damals in Hairenbuch Männer aus dem Dorf – nicht der Entdecker der Tat sein muss. Die Dauer der Verfolgung ist nicht begrenzt und kann bis zur Ergreifung gehen. Sobald allerdings die Polizei Zugriff auf das Geschehen hat, bestimmt sie dessen Verlauf.
Der Einbrecher von damals wurde vermutlich nicht mit Samthandschuhen angefasst. Oder um es anders auszudrücken: Er musste sicherlich Prügel einstecken. Hat Justitia damals bei solchen Fällen ein Auge zugedrückt? Kreuzpointner: Das Festnahmerecht erlaubt die Anwendung körperlicher Gewalt auch mit der Gefahr oder Folge körperlicher Verletzungen, wie etwa festes Zupacken, gegebenenfalls Anspringen, zu Fall bringen, am Boden fixieren oder das Anlegen von Fesseln, so weit es zur Festnahme erforderlich und im Verhältnis zur Bedeutung der Sache angemessen ist. Keinesfalls erlaubt ist eine ernsthafte Beschädigung der Gesundheit, etwa durch gezielte Schüsse oder gefährliches Würgen. Dass ein Einprügeln auf den Täter durch mehrere Personen zum Zwecke der Festnahme notwendig wird, ist kaum vorstellbar. Ein Verprügeln des schon Gefangenen ist indiskutabel. Unabhängig von auch heute bestehenden tatsächlichen Problemen der genauen Zuordnung von Einzelhandlungen zu dem, was für die Festnahme erforderlich war, gehe ich davon aus, dass auch die der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Staatsanwälte der vorletzten Jahrhundertwende keine Akte der Selbstjustiz geduldet haben. Wie darf ich mich heute gegen Einbrecher wehren? Dürfte ich einen gerade ertappten Einbrecher festhalten, bis die Polizei eintrifft? Oder vielleicht sogar mit der Hilfe von Nachbarn fesseln? Kreuzpointner: Das geschilderte „Jedermannsrecht“des Paragrafen 127 Absatz 1 der Strafprozessordnung ist aktuelles Recht und erlaubt bei Fluchtgefahr das Festhalten und ein notwendiges Fesseln des auf frischer Tat ertappten Einbrechers mit fremder Hilfe bis zum Eintreffen der Polizei. Allerdings sollte man schon lange vor ihrem Eingreifen die Hinweise und Ratschläge der Polizei zur Vorbeugung gegen Straftaten jeglicher Art beherzigen und im Ernstfall die auf einen selbst zukommenden Gefahren genau prüfen, weil die konkrete Bewaffnung des Täters – wie das lange Messer in Hairenbuch – sich oft erst später zeigt und weil man ein verdientes Lob für Zivilcourage lieber gesund entgegen nimmt. Fragen: Maximilian Czysz