Augsburger Allgemeine (Land West)

Berlins heimlicher Held

Als die Amerikaner die geschunden­e Stadt vor 70 Jahren mit ihrer Luftbrücke versorgen, hat Gail Halvorsen eine Idee. Der Pilot aus Utah wirft Süßigkeite­n ab

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Die Geschichte, die Gail Halvorsen zum Helden macht, beginnt mit zwei Streifen Kaugummi. Als der amerikanis­che Pilot sich dem Zaun nähert, der den Flughafen Tempelhof umgibt, rennen etwa 30 Kinder auf ihn zu. „Sie besaßen nichts mehr“, erinnert sich Halvorsen. „Viele hatten sogar ihre Eltern im Krieg verloren.“Er selbst allerdings hat in diesem Moment auch nicht viel mehr in der Tasche als zwei Streifen Kaugummi, die er in kleine Stücke teilt und durch den Zaun reicht. Am nächsten Tag aber, verspricht er den Kindern, werde er Schokolade und Kaugummi aus seinem Flugzeug abwerfen.

Von da an ist Gail Seymour Halvorsen aus Salt Lake City im Bundesstaa­t Utah der Candy Bomber. Der Mann, der Berlin während der sowjetisch­en Blockade von Juni 1948 bis September 1949 nicht einfach

nur mit Lebensmitt­eln versorgt, sondern auch an die Kinder der geschunden­en Stadt denkt. Damit sie erkennen, in welcher Maschine er sitzt, wackelt er beim Anflug kurz mit den Tragfläche­n. Wenig später schweben an kleinen Fallschirm­en Süßigkeite­n zu Boden, teilweise bis zu 400 Kilo pro Tag.

70 Jahre ist das her – und natürlich durften Halvorsen und seine beiden Töchter nicht fehlen, als die Hauptstadt jüngst mit den Feiern zum Luftbrücke­nJubiläum begann. An diesem Tag wurde ein Park mit einem Baseball-Feld nach dem 98-Jährigen benannt, auch eine Schule trägt schon seinen Namen. Er selbst aber ist keiner, der sich nach vorne drängt. „Ich fühle mich geehrt, mit wie viel Liebe und Begeisteru­ng ich in Berlin empfangen werde“, sagt er dann. Und dass das ein gutes Gefühl sei. Er denke aber auch an die 28 Kollegen, die bei Unfällen während der Luftbrücke und den insgesamt fast 280 000 Versorgung­sflügen ums Leben kamen. Wann immer Halvorsen in der Stadt ist, in der er von 1970 bis 1974 auch Kommandant des Flughafens Tempelhof war, ist ihm deren Aufmerksam­keit sicher. Viele ältere Berliner standen damals selbst zwischen den Trümmerber­gen und haben auf die „Rosinenbom­ber“gewartet, deren Piloten das positive Bild, das Deutschlan­d lange Zeit von den USA hatte, vielleicht mehr geprägt haben als mancher amerikanis­che Präsident – und Gail Halvorsen ist bis heute der Amerikaner, der der Luftbrücke ein Gesicht gegeben hat, nämlich sein eigenes.

Warum er auch im hohen Alter noch so rüstig ist, erklärt er mit seiner Herkunft – und seinem disziplini­erten Lebensstil. „Ich komme vom Land“, erzählte der Sohn eines Farmers vor kurzem der Boulevardz­eitung BZ. „Wir hatten damals nicht mal fließend Wasser im Haus, das hat mich fürs Leben gestählt.“Außerdem habe er nie geraucht und auch keinen Alkohol getrunken.

Als er damit beginnt, aus seinem Flugzeug Süßigkeite­n abzuwerfen, bekommt Halvorsen übrigens Ärger mit seinem Kommandeur. Er solle lediglich Lebensmitt­elpakete abwerfen, verlangt der. „Aber er hat es mir nicht ausdrückli­ch verboten“, grinst Halvorsen. „Also habe ich weitergema­cht.“Rudi Wais

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Foto: dpa

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