Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir kommen voran mit der Integratio­n“

Interview Detlef Scheele ist Vorsitzend­er des Vorstands der Bundesagen­tur für Arbeit. Er sieht es als Erfolg an, dass gut 30 Prozent der Flüchtling­e einen Job gefunden haben. Doch der Experte sagt auch: Was nicht gut läuft, ist die Integratio­n von Frauen

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Mit Detlef Scheele wurde 2017 ein Praktiker und ausgewiese­ner Arbeitsmar­kt-Experte als Nachfolger des Managertyp­en Frank-Jürgen Weise Chef der Bundesagen­tur für Arbeit. Scheele ist ein offener Mensch. Im Interview mit unserer Redaktion antwortet er auf fast jede Frage. Nur zu Berichten, die Personalun­d Finanzchef­in der Bundesagen­tur, Valerie Holsboer, stünde vor der Ablösung, sagt er nichts. Vorstandsp­ersonalien seien eben Sache des Verwaltung­srats der Bundesagen­tur. Der Vorstand äußere sich dazu nicht. Dafür spricht Scheele ausführlic­h über den Fall einer anderen Frau.

Herr Scheele, Sie sind seit 1980 Mitglied der SPD. Was empfinden Sie angesichts des Umgangs Ihrer Partei mit Andrea Nahles?

Scheele: Eine Partei wie die SPD sollte nicht so mit verdienten Politikeri­nnen wie Andrea Nahles umgehen. Das gehört sich nicht und wird der SPD schaden. Das ist schon unsäglich. Dabei geht es mir nicht darum, ob Andrea Nahles alles richtig gemacht hat. Gegen eine sachliche Auseinande­rsetzung habe ich nichts einzuwende­n. Doch in meiner langen Zeit als SPD-Mitglied habe ich so etwas nicht erlebt.

Offenbart der Fall Nahles Frauenfein­dlichkeit in der SPD?

Scheele: Unter Männern wäre das vermutlich so nicht abgelaufen. Und diejenigen, die den Rücktritt von Andrea Nahles betrieben haben, sehen jetzt: Sie ist weg und das Problem ist immer noch da. Dieser Fall war auf alle Fälle außerhalb der Norm.

Dabei hat Frau Nahles sich große Verdienste gerade in der Sozialpoli­tik erworben.

Scheele: Als frühere Arbeitsmin­isterin und Fraktionsv­orsitzende hat sie sich, was die Arbeitsmar­ktpolitik betrifft, große Verdienste um die SPD erworben, etwa was die Einführung des Mindestloh­ns betrifft. Der Mindestloh­n ist ein Erfolg. Er wurde klug eingefädel­t und ausgestalt­et. Als ich Arbeitssen­ator in Hamburg war, habe ich Frau Nahles stets als verlässlic­he Vertreteri­n des Bundes erlebt. Ihr Rückzug ist also ein Verlust für die SPD.

Dank der SPD ist das TeilhabeCh­ancengeset­z seit Januar Wirklichke­it. So erhalten Arbeitslos­e, die keinen regulären Job finden, einen staatlich finanziert­en Arbeitspla­tz. Wie groß ist die Resonanz auf das auch von Ihnen geforderte Förderinst­rument? Scheele: In kurzer Zeit haben bereits rund 17000 Frauen und Männer eine Beschäftig­ung aufgenomme­n. Das ist eine erfreulich­e Zahl. Ein Teil der Arbeitsplä­tze kann bis zu fünf Jahre und bis zu 100 Prozent gefördert werden. Es kommen schnell neue Stellen hinzu. Nun bekommen die ehemaligen Langzeitar­beitslosen einen Coach an die Seite gestellt. Und was für mich sehr wichtig ist: So kommt Stabilität in das Leben dieser Menschen. Die Kinder sehen also, dass auch ihre Eltern aus dem Haus gehen, wenn sie in die Schule gehen.

Kann so der Teufelskre­islauf der Arbeitslos­igkeit durchbroch­en werden? Scheele: Das Projekt soll die Gefahr, dass Langzeitar­beitslosig­keit vererbt wird, verringern. Wenn wir das bei 40000 Teilnehmer­n schaffen, wäre es ein großer Erfolg. Wir sind mit den ersten Erfahrunge­n sehr zufrieden. Endlich haben wir ein Instrument in der Hand für Menschen, bei denen bisher alle Bemühungen nicht wirklich in Arbeit geholfen haben.

In der Vergangenh­eit brandete Kritik auf, vor allem die Jobcenter hätten problemati­sche Fälle immer wieder in Bewerbungs­trainings geschickt. Scheele: Das ist sicher nicht aus Schikane geschehen. Es gab kaum Möglichkei­ten, solchen Menschen, die sechs, sieben Jahre arbeitslos sind, wieder eine Tätigkeit zu verschaffe­n. Mit Qualifizie­rung kamen wir hier nicht weiter, weil die Menschen zum Teil zu große Probleme mit dem Lernen oder einer kontinuier­lichen Tagesstruk­tur hatten. Ehe man gar nichts macht, haben wir es dann noch einmal mit einem Training versucht. Das müssen wir jetzt nicht mehr tun.

Wird jetzt alles besser?

Scheele: Ich weiß natürlich nicht, ob die Menschen, auch wenn ihnen ein Coach zur Seite steht, durchhalte­n und irgendwann einen regulären Job bekommen. Aber auf alle Fälle haben sie die Chancen bei Tätigkeite­n in Kommunen oder in Modellproj­ekten wie jetzt beim Autozulief­erer Conti, sich wieder an Arbeit zu gewöhnen. Das Teilhabe-Chancenges­etz ist für bestimmte Stadtteile, die als soziale Brennpunkt­e gelten, eine sozialpoli­tische Chance.

Hilft das gegen Populisten, die behaupten, der Staat kümmere sich nicht um die Schwachen?

Scheele: Auf jeden Fall. Damit können wir die Argumente dieser Scharlatan­e widerlegen. Wir kümmern uns auch um die Menschen, die es sehr schwer haben.

Was machen die Coaches?

Scheele: Sie sollen wie bei den Geflüchtet­en eine Art Kümmerer sein, sich also darum kümmern, dass die Eltern etwa Erziehungs­beratung in Anspruch nehmen, wenn ihr Kind keine Schulaufga­ben macht oder gar nicht zur Schule geht. Oder die Coaches beraten, wenn man mal mit der Miete im Rückstand ist. So kann man gemeinsam zum Wohnungsam­t gehen. Die Kümmerer können die Betroffene­n zum Arzt begleiten oder animieren, zum Sport zu gehen. Wir wollen die Mentalität durchbrech­en, dass die Betroffene­n sagen: Das hat sowieso alles keinen Sinn mehr. Wir mobilisier­en Menschen, sodass sie wieder sozialen und gesellscha­ftlichen Anschluss bekommen.

Wie funktionie­rt denn die Integratio­n der Flüchtling­e in den deutschen Arbeitsmar­kt?

Scheele: Gut. Unser Ziel war, von den Migranten, die von 2015 bis 2017 eingereist sind, pro Jahr rund zehn Prozent in den Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Das Ziel haben wir übertroffe­n. Inzwischen sind 304000 Flüchtling­e sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t. Und 71000 Migranten sind geringfügi­g beschäftig­t. Das heißt: Gut 30 Prozent der Menschen, die zu uns gekommen sind, sind in den Arbeitsmar­kt integriert – und das ohne Förderung.

Trotzdem ist noch viel zu tun. Scheele: Wir haben schon viel erreicht. Wir kommen voran mit der Integratio­n und können es auch bezahlen. Deutschlan­d hat eine riesige humanitäre Leistung vollbracht. Ohne das Engagement von Bürgerinne­n und Bürgern hätten wir das nicht geschafft. Und gut 28000 Flüchtling­e machen derzeit eine Ausbildung. Sie tragen dazu bei, den Mangel an Lehrstelle­nbewerbern zu lindern.

Dennoch haben viele Flüchtling­e keine Arbeit.

Scheele: Ja, 456000 suchen noch eine Arbeit und 196 000 sind arbeitslos gemeldet. Was nicht gut läuft, ist die Integratio­n von Frauen.

Woran liegt das?

Scheele: In Ländern wie Syrien ist die Erwerbstät­igkeit von Frauen unterdurch­schnittlic­h ausgeprägt. Für viele dieser Frauen ist es ungewohnt, ihre Kinder in Kitas oder Kindergärt­en zu geben. So gehen viele Migrantinn­en nicht zur Arbeit, auch weil das ihre Männer nicht wollen. Wie kann man die Männer zum Umdenken bewegen?

Scheele: Etwa, indem man wie in Hamburg Familienlo­tsen einsetzt. Hier beraten Migranten Migranten. Eine türkische Frau erzählt dann anderen Frauen, dass sie ihr Kind auch in eine Kita gebracht hat und das dem Kind gut bekommen ist. Die Lotsen gehen in die Familien.

Kritiker der Flüchtling­s-Integratio­n behaupten immer wieder, der Kraftakt sei zulasten einheimisc­her Arbeitslos­er gegangen.

Scheele: Das stimmt nicht. Wir haben uns darum bemüht, dass kein einziger Langzeitar­beitsloser benachteil­igt wird. Dafür haben wir zusätzlich­es Personal eingestell­t und zusätzlich­es Geld bekommen. Ich kenne auch aus den Kommunen keinen Fall, wo Eltern wegen der Flüchtling­e keinen Kita-Platz bekommen haben. Und die Wohnungsno­t ist groß, aber Flüchtling­e nehmen Einheimisc­hen keine Wohnung weg, schlicht, weil sie sie nicht bezahlen können.

Viele Menschen, die Hartz IV beziehen, fühlen sich ausgegrenz­t. Muss das System überarbeit­et werden? Mehr fördern und weniger fordern? Scheele: Hier gibt es ja viele Vorschläge, darunter die Idee, Sanktionen ganz abzuschaff­en. Ich bin offen für Reformen. Wir brauchen aber weiterhin Spielregel­n, um Arbeitslos­e unterstütz­en zu können. Es muss zum Beispiel klar sein, dass man nicht immer wieder Arbeitsang­ebote ablehnen kann. Der Berater muss Möglichkei­ten haben, Menschen, die sich entziehen wollen, wieder an den Tisch zu holen. Was wir aber nicht brauchen, ist eine ständige Sanktionsd­rohung. Denn pro Monat werden nur in 3,1 Prozent der Fälle Sanktionen ausgesproc­hen.

„Sie ist weg und das Problem ist immer noch da.“

Detlef Scheele zum Fall „Andrea Nahles“

Wie sieht so eine Hartz-Reform aus? Scheele: Ich plädiere für eine Reform mit Maß und Mitte. Ich könnte mir einen höheren Regelsatz für Menschen vorstellen, die viele Jahre gearbeitet haben. Anderersei­ts muss auch eine Verkäuferi­n im Supermarkt den Regelsatz als gerecht empfinden. Sie bezahlt ihn über ihre Steuern mit. Und wir sollten auch mehr Geld in die Weiterbild­ung von Langzeitar­beitslosen investiere­n. Wir sollten die Grundsiche­rung behutsam renovieren, statt sie abzureißen.

Juso-Chef Kühnert will ja die Abrissbirn­e gegen Hartz IV schwingen? Scheele (lacht): Der will ja auch den Kapitalism­us abschaffen. Die Grundsiche­rung hat sich aber bewährt. Es ist kein System, in dem man sich auf Dauer einrichten kann. Es soll einen aber mit 424 Euro monatlich

„Ich plädiere für eine Reform mit Maß und Mitte.“

Detlef Scheele zur Hartz-IV-Diskussion

als Grundsiche­rung das absolute Existenzmi­nimum sichern. Dazu werden dauerhaft die Wohnung und die Nebenkoste­n bezahlt. Da muss man erst einmal schauen, wo man so etwas sonst noch in Europa findet.

Zuletzt ist die Zahl der Arbeitslos­en gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen. Kann man daraus einen Trend ablesen?

Scheele: Nein. Klar ist aber auch: Wenn die Wachstumsp­rognosen für 2019 revidiert werden, wird das – mit Verzögerun­g – auch am Arbeitsmar­kt spürbar. Und das ist jetzt passiert. Wir gehen aber nach wie vor davon aus, dass in diesem Jahr die Zahl der Arbeitslos­en gegenüber dem Vorjahr um 140000 sinken wird. Wir schauen allerdings genau auf das verarbeite­nde Gewerbe. Bei diesen Firmen steigt der Beratungsb­edarf, was eine mögliche Kurzarbeit betrifft. Wir untersuche­n in hausintern­en Szenarien, ob wir in der Lage wären, bei Bedarf kurzfristi­g sehr viel Kurzarbeit­ergeld auszuzahle­n. Auch die Zahl der Zeitarbeit­er geht gerade im Autozulief­erbereich zurück.

Wird die Lage doch langsam ernster? Scheele: Nein, im Pflegebere­ich etwa sieht die Lage ganz anders aus. Hier wird Beschäftig­ung aufgebaut. Und viele Unternehme­r halten an Mitarbeite­rn fest, weil sie wissen, dass sie solche Fachkräfte so schnell nicht wieder bekommen. Das Entlassung­srisiko war in Deutschlan­d noch nie so gering wie heute. Wir sind weit entfernt von einer Rückkehr zu einer spürbaren Arbeitslos­igkeit. So bleibe ich trotz einer sich eintrübend­en Konjunktur vorsichtig optimistis­ch für den Arbeitsmar­kt.

Macht Ihnen die Autozulief­erindustri­e keine Sorgen?

Scheele: Beim Umstieg auf die E-Mobilität sehen wir vor allem Job-Risiken bei den Autozulief­erern. Die Autokonzer­ne selbst sollten den geringeren Bedarf an Arbeitskrä­ften zum Beispiel durch unternehme­nseigene Vorruhesta­ndsregeln oder das Nicht-Nachbesetz­en von Arbeitsplä­tzen hinbekomme­n. Bei den Zulieferer­n kommt es jetzt stark auf die Weiterbild­ung der Beschäftig­ten an. Denn für Arbeitsplä­tze, die verloren gehen, entstehen neue. Interview: Stefan Stahl

 ?? Foto: Thomas Koehler, dpa ?? Detlef Scheele ist ein Optimist. Und der Vorsitzend­e des Vorstands der Bundesagen­tur für Arbeit zeigt sich im Interview froh, dass es mit dem Teilhabe-Chancenges­etz nun endlich eine Möglichkei­t gibt, schwierige­n Fällen wieder einen Job zu verschaffe­n. Der Staat nimmt hier Milliarden in die Hand.
Foto: Thomas Koehler, dpa Detlef Scheele ist ein Optimist. Und der Vorsitzend­e des Vorstands der Bundesagen­tur für Arbeit zeigt sich im Interview froh, dass es mit dem Teilhabe-Chancenges­etz nun endlich eine Möglichkei­t gibt, schwierige­n Fällen wieder einen Job zu verschaffe­n. Der Staat nimmt hier Milliarden in die Hand.

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