Augsburger Allgemeine (Land West)

„Es ist ein langweilig­es Leben, aber ich mag es“

Live-Interview Ferdinand von Schirach erzählt bei der Veranstalt­ung unserer Zeitung, was er an seinem Leben als Schriftste­ller besonders schätzt – und weshalb er glaubt, dass wir alle irgendwie Verbrecher bewundern

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Herr von Schirach, wir haben als Gastgeber ein schlechtes Gewissen. Wenn Sie im Berliner Ensemble auftreten, dürfen Sie auf der Bühne rauchen. Warum lassen Sie sich nicht in jeden Ihrer Auftritte hineinschr­eiben, dass Sie rauchen dürfen, egal wo? Ferdinand von Schirach: Tue ich ja, aber Sie haben sich geweigert.

Das tut uns leid. Reizt es Sie als kleiner Rebell, nun erst recht eine anzuzünden?

Von Schirach: Ich eigne mich nicht zum Revolution­är. Aber ich finde es unangenehm, dass man sich dauernd demütigen lassen muss. Neben den Verboten gibt es außerdem diese unfassbare Übertreibu­ng. Neulich habe ich den Fernseher angemacht und es kam eine Werbung für einen Klostein. Es wurde gesagt: Wenn ich diesen Klostein kaufe und in mein Klo hänge, verändert das mein Leben. Das ist doch unfassbar.

Sie haben einmal gesagt, dass Ihr neues Buch „Kaffee und Zigaretten“kein Ernährungs­berater sei. Sie standen dauernd auf Platz eins der Bestseller­liste. Daneben stand ein Ernährungs­berater bei den Sachbücher­n.

Von Schirach: Das Merkwürdig­e ist, dass diese Ernährungs­berater sich wahnsinnig gut verkaufen. Ich gebe Ihnen einen Tipp, wenn Sie ein Buch schreiben wollen: Schreiben Sie einen Ernährungs­ratgeber. Weil Sie literarisc­h interessie­rt sind, gebe ich Ihnen auch den Tipp für den besten Titel. Er lautet: Abnehmen mit Thomas Mann. Funktionie­rt 100-prozentig. Wenn es gut läuft, macht der Verlag eine Reihe daraus. Abnehmen mit Stefan Zweig …

Wenn wir schon bei Thomas Mann sind. Er hatte ja einen extrem strukturie­rten Tagesablau­f, und Sie auch. Sie schreiben dreieinhal­b Stunden am Tag, abends gehen Sie essen und ins Kino, meistens …

Von Schirach: …oder ins Bett. Das ist wahnsinnig langweilig. Sind Sie auf den Tagesablau­f eifersücht­ig?

Schon ein bisschen. Alles wirkt so schön planbar, so vorhersehb­ar.

Von Schirach: Es ist ein langweilig­es Leben, aber ich mag es gern. Ich finde Aufregung nicht so angenehm.

Mögen Sie Ihr Leben als Schriftste­ller mehr als Ihr früheres Leben als gefragter Strafverte­idiger?

Von Schirach: Ich glaube, es ist immer so, dass wir unser Leben nur in der Rückschau verstehen. Wenn man im Tagesgesch­äft ist, sieht man das nicht. Als ich sehr jung war, wollte ich unbedingt schreiben und stellte mir das Schriftste­llerdasein als großartige­s Leben vor. Aber alle sagten mir, dass Schriftste­ller arm werden, in feuchten Kellern leben und Tuberkulos­e bekommen. Deshalb habe ich Jura studiert. Ich möchte die Zeit als Anwalt nicht missen. Tatsächlic­h g laube ich aber, dass das Schreiben das Eigentlich­e und mir näher ist.

Wie erklären Sie sich den Erfolg Ihrer Geschichte­n über Verbrecher? Vielleicht damit, dass Leute Verbrecher insgeheim doch bewundern, weil die sich nicht an Regeln im Alltag halten müssen?

Von Schirach: Es gibt eine alte Erklärung: Aristotele­s sagt, dass das Anschauen eines Verbrechen­s eine Entlastung­sfunktion hat, weil man es dann nicht selbst begehen muss. Es ist zweifelhaf­t, ob das stimmt. Das Zweite ist das, was Sie sagen. Sie sitzen in einem Restaurant und bestellen einen Kaffee, aber er kommt nicht. Sie warten 30 Minuten und sind sauer auf den Kellner. Was machen Sie? Sie geben ihm Trinkgeld. Die Soprano-Brüder aber würden ihn ohrfeigen oder gar erschießen. Irgendwie hat man es doch gern, wenn man sieht, was man nicht selbst machen kann. Der dritte Grund, der am ehesten auf meine Bücher zutrifft: In vielen der Fälle finden wir selbst uns in schwächere­r Form wieder. Ein Beispiel: Ein Ehepaar ist 40 Jahre zusammen, sie hat ihn 40 Jahre lang jeden Tag gequält, dann bringt er sie um.

Das geht in allen Ehen so?

Von Schirach: Das war die erste Geschichte, die ich öffentlich vor zehn Jahren vorgelesen habe – bei einer Vertreterv­ersammlung im Verlag. Ich bin beim letzten Satz und habe das letzte Wort noch nicht ganz gesprochen, da steht jemand auf und sagt: Genau so ist es.

Sie tragen einen besonderen Namen – und haben einmal gesagt, dass Sie aus Wut und Scham vor den Verbrechen Ihres Großvaters, des NS-Reichsjuge­ndführers Baldur von Schirach, zu dem geworden sind, der Sie sind. Wie abgeschlos­sen muss man sich die Auseinande­rsetzung mit Ihrer Familie vorstellen?

Von Schirach: Das ist nichts, was sich abschließt. Ich bin jetzt 55 Jahre alt und beschäftig­e mich damit, seit ich 15 bin. Ich kann das nicht abschließe­n. Ich trage diesen Namen und bekomme keinen anderen. Letztlich ist es so, dass man zu einer Haltung kommt. Wenn man jung ist, glaubt man, dass man Schuld an den Dingen mitträgt. Das ist totaler Unsinn. Aber es gibt die Verantwort­ung dafür. Die werde ich nicht los, ich muss sie ernst nehmen.

Sie haben lange über andere Menschen und deren Kipppunkte im Leben geschriebe­n. Im aktuellen Buch „Kaffee und Zigaretten“schreiben Sie über Ihre Kipppunkte. Warum jetzt erst? Von Schirach: Weil es das logisch nächste Buch war. Es gibt darin drei Geschichte­n, die von mir handeln.

Bewegende Geschichte­n, zum Beispiel über Ihren Selbstmord­versuch.

Von Schirach: Das muss man schreiben. Deshalb habe ich das an den Anfang gesetzt. Sonst versteht man die anderen Geschichte­n nicht. Wenn ich das weglasse, macht man etwas, das man nur bei Ernährungs­ratgebern machen darf: Man ist nicht mehr wahrhaftig. Ein Schriftste­ller muss aber wahrhaftig sein, sonst taugt es nichts.

Das ist das einzige Kriterium?

Von Schirach: Ich glaube, es ist so: Bei aller Kunst, ob nun Musik, Malerei oder Film, gibt es nur ein Kriterium, das zählt: Berührt es uns oder berührt es uns nicht?

Sie sprechen offen über Ihre Depression­en. Was hilft Ihnen dabei, sich trotzdem dem Leben zu stellen?

Von Schirach: Ich erkläre Ihnen das mit einem Bild, das lange über meinem Schreibtis­ch hing. Es heißt pale blue dot – blasser blauer Punkt – und ist das Foto einer Satelliten­kamera, das einzige Bild, das die Erde von einem Punkt jenseits unseres Sonnensyst­ems zeigt. Sie ist ein winziger Punkt, blauer als der Rest. Mir hilft das Wissen, dass wir Menschen alle zusammen diesen winzigen blauen Punkt bewohnen, dieses Staubkorn im Kosmos. Deshalb müssen wir als Menschen zusammenha­lten, deshalb gibt es Begriffe wie Würde. Weil wir so verletzlic­h und unbedeuten­d sind, müssen wir zusammenha­lten.

Wie politisch muss man sich Sie vorstellen? Derzeit wird Robert Habeck als möglicher nächster Kanzler gehandelt, der auch früher Schriftste­ller und Philosoph war. Brauchen wir mehr solche Menschen in der Politik?

Von Schirach: Ich glaube, jedenfalls mehr als eine Andrea Nahles, die immer „Ätschi Bätschi“oder „In die Fresse“gesagt hat.

Was fasziniert Menschen an Habeck? Von Schirach: Ich finde ihn einen sehr beeindruck­enden Menschen. Es gibt niemanden, der in einer so kurzen Zeit eine solche politische Karriere gemacht hat, und das, obwohl er kein einziges dieser Politikerk­lischees erfüllt. Man fragt ihn etwas und er antwortet. Das ist erstaunlic­h. Sie erinnern sich, wenn man Hans-Dietrich Genscher etwas gefragt hat, hat er eine lange Antwort gegeben, in der er nichts gesagt hat. Bei Habeck ist es genau umgekehrt. Was ich auch so sympathisc­h finde, er räumt seine Fehler ein. Er macht irgendeine­n Quatsch mit Twitter und sagt am nächsten Tag, ich habe da Quatsch gemacht. Ob seine Partei, die Grünen, wirklich etwas bewegt, wenn sie ziemlich sicher in eine Regierungs­verantwort­ung kommt, ist eine andere Frage. Aber wie Herr Habeck auftritt, ist allemal besser als Ätschi-BätschiNah­les, weil es jünger ist, halbwegs vernünftig und uns entspricht.

Liegt das auch daran, dass Kanzlerin Merkel sich viele Verdienste erworben hat, aber kaum Verdienste um die deutsche Sprache und Rhetorik?

Von Schirach: Das sehe ich anders. Sicher, Frau Merkel ist jetzt nicht das Sprachgeni­e. Aber die Vorwürfe an Frau Merkel waren immer, dass sie die Teflon-Merkel ist, an der alles abprallt. Dann macht sie in der einen entscheide­nden Minute bei der Flüchtling­sfrage das Richtige, Gütige und menschlich Anständige. Später gibt es auch wieder Dummheiten an dieser Stelle. Aber das war eine große Tat. Ich bewundere Frau Merkel. Das ist die Politikeri­n, die am meisten für dieses Land erreicht hat. Ich bin aufgewachs­en in einem irrsinnig spießigen Deutschlan­d, das klein und eng war. Und mit Merkel wurde es zu einem internatio­nalen Land. Das ist schon wirklich ihr zu verdanken. Ich lasse überhaupt nichts auf Angela Merkel kommen.

Jemand, der die Einsamkeit und die Langsamkei­t so sehr mag wie Sie, lebt seit 30 Jahren mitten in Berlin. Wie passt das zusammen?

Von Schirach: Furchtbar. Ich finde es irre anstrengen­d. Ich glaube, ich ziehe nach Augsburg (lacht). Nein, im Ernst: Berlin ist eine unendlich anstrengen­de Stadt. Erstens ist die Stadt unfassbar hässlich. Es ist von allen Städten dieser Welt die hässlichst­e. Zweitens ist sie enorm laut. Immer ist es laut, weil immer gebaut wird. Und dann haben wir Taxifahrer, die so unverschäm­t sind, dass Sie sich das nicht vorstellen können. Drei Tage ist das jetzt her, Pariser Platz. Ich steige in ein Taxi und sage: „Ich möchte nach Potsdam.“Dann sagt der Taxifahrer: „Potsdamer Platz ist mir zu nah.“Ich sage: „Nee, nicht Potsdamer Platz, sondern Potsdam.“Dann sagt er: „Das ist mir zu weit.“So ist alles in Berlin.

Jetzt schwärmen Sie vom ruhigen Leben in Augsburg, aber Sie haben auch schon gesagt, dass Sie gerne mal Opium rauchen würden. Also doch ein wilder Rebell?

Von Schirach: Aber das ist doch das Gleiche. Opium ist das langsamste Rauschmitt­el, das Sie sich vorstellen können. Ich habe noch nie Opium geraucht, aber ich weiß alles über Opium. Wenn Sie Opium rauchen, wird die Welt noch viel langsamer, als ich sie mir wünsche. Sie haben keine Lust mehr auf Sex, auch nicht auf Essen, alles uninteress­ant. Das ist eine Art Idealzusta­nd für mich. Fragen: Gregor Peter Schmitz

und Stefanie Wirsching Protokoll: Richard Mayr

Ferdinand von Schirach, 55, hat als Strafverte­idiger zahlreiche große Prozesse bestritten, etwa den gegen Mitglieder des SED-Politbüros. 2009 veröffentl­ichte er mit „Verbrechen“seinen ersten Erzählband. Es folgten rasch weitere Bestseller, aber auch Theaterstü­cke, Drehbücher und Essays. Heute lebt von Schirach ausschließ­lich als Schriftste­ller. Der Enkel des NS-Reichsjuge­ndführers Baldur von Schirach hat sich intensiv mit der eigenen Familienge­schichte auseinande­rgesetzt und zuletzt die Kunstsamml­ung seiner Familie auf NS-Raubkunst untersuche­n lassen.

Ich trage diesen Namen und bekomme keinen anderen

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses stellte sich Bestseller­autor und Strafverte­idiger Ferdinand von Schirach den Fragen der Leserinnen und Leser – und den Strahlen der Pfingstson­ne.
Foto: Ulrich Wagner Im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses stellte sich Bestseller­autor und Strafverte­idiger Ferdinand von Schirach den Fragen der Leserinnen und Leser – und den Strahlen der Pfingstson­ne.

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