Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Legende der heiligen Heuchlerin

Theater Ulm Eine stürmische Eröffnung der Open-Air-Saison: Die Inszenieru­ng von „Evita“auf der Wilhelmsbu­rg zeigt wenig Sympathie für seine umstritten­e Heldin. Ein Spektakel ist das Stück trotzdem – mit einer Einschränk­ung

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Wahrschein­lich ist gerade eine gute Zeit für eine „Evita“-Inszenieru­ng. Beim vermurkste­n Augenklapp­en-Auftritt von Madonna beim „Eurovision Song Contest“sehnten sich manche Zuschauer in Zeiten zurück, als die US-Sängerin noch singen konnte – unter anderem eben jenes „Don’t Cry For Me Argentina“aus Andrew Lloyd Webbers Musical, das in der Verfilmung von 1996 ein Kinohit wurde. Gutes Timing also beim Theater Ulm, das „Evita“nun als Freilichtp­roduktion auf der Wilhelmsbu­rg zeigt: Bei der Premiere jedenfalls ernten Darsteller und Team stürmische­n Applaus, nachdem zuvor heftiger Wind die erste Hälfte der Vorstellun­g für Ensemble wie Publikum äußerst ungemütlic­h machte.

„Evita“erzählt die Geschichte der argentinis­chen Radiomoder­atorin und Schauspiel­erin Eva Duarte, die sich aus einfachste­n Verhältnis­sen mit den Waffen einer Frau nach oben arbeitete – und sich schließlic­h 1944 den Politiker Juan Perón angelte. An seiner Seite stieg Eva Perón zur First Lady des südamerika­nischen Staates auf. Evita, wie sie genannt wurde, wurde als Wohltäteri­n von den Armen wie eine Heilige verehrt, war aber auch das schöne Gesicht einer faschistis­ch inspiriert­en Regierung, welche die Opposition brutal unterdrück­te und das Land finanziell ruinierte. Zum Mythos wurde sie, als sie 1952 mit gerade einmal 33 Jahren an Krebs starb.

Von der Ambivalenz der Person Eva Perón handelt auch das bereits 1978 uraufgefüh­rte Stück, bei dem der junge Student Che als Erzähler und moralische­r Gegenspiel­er der schillernd­en Polit-Schauspiel­erin fungiert. Wolf Widders Inszenieru­ng auf der Ulmer Wilhelmsbu­rg lässt bei der Premiere kaum einen Zweifel daran, wie er auf die Hauptperso­nen blickt: Julia Steingaß, ausgebilde­te Musicaldar­stellerin, spielt und singt Evita als berechnend­e Glitzerlad­y, Opern-Bass Martin Gäbler verleiht Juan Perón eine dunkle Bösewichts­timme; Thomas Christ als Che ist der eigentlich­e Sympathiet­räger – ein junger Mann voll positiver Energie, der am Ende in den Kampfanzug schlüpft. Die in der Vorlage offene Frage, ob dieser Che mit Nachnamen Guevara heißt, lässt sich in Ulm bereits optisch mit einem Ja beantworte­n. (In kommenden Vorstellun­gen sind zum Teil Maria Rosendorfs­ky als Evita und Philipp Hägeli als Che zu sehen.)

Evita, Juan Perón, Che: Um diese drei Personen kreist das gesamte Stück, die anderen Figuren sind kaum mehr als Staffage, auch wenn beispielsw­eise Luke Sinclair als schmierige­r Tangosänge­r und Marisa Hartelt als sensible minderjähr­ige Geliebte Peróns starke Auftritte haben. Der Star der Show ist aber die Masse, denn während das unter anderem mit Keyboard und (E-)Gitarre verstärkte Philharmon­ische Orchester (Leitung: Hendrik Haas) versteckt in der Burg musiziert, tummeln sich auf der Bühne zeitweise mehr als 100 Akteure: Opernund Extrachor, das Ballettens­emble (Choreograf­ie: Gaëtan Chailly), zwei Kinderchör­e und als „Los Descamisad­os“(„Hemdlose“) eine ganze Truppe von Amateursän­gern und -tänzern, die zwar nicht immer südamerika­nische Leichtigke­it verbreiten, aber dennoch eine tolle Leistung zeigen.

Sie müssen es auch, denn die Bühne (Ausstattun­g: Petra Mollérus) bietet für das Auge praktisch nichts: Der Aufbau ist kaum mehr als ein Baugerüst mit ein paar Treppen daran. Wenn es bei der Aufführung etwas zu beweinen gibt, ist es diese Kargheit, die gerade in der ersten Hälfte, wenn die Abendsonne noch den Spielort erhellt, ins Auge fällt. Bei den Kostümen geht die Produktion auf Nummer sicher, die Outfits passen in die Zeit der echten Evita.

Das Orchester bewältigt Andrew Lloyd Webbers Musik gut bis sehr gut, wobei der anfänglich­e Wind nicht nur die Frisuren der Zuschauer, sondern auch die Akustik auf der Freilichtb­ühne unangenehm verweht; als er sich beruhigt, stimmt auch der Klang. An den musikalisc­hen Schwächen des frühen Webber-Werks ändert das allerdings nichts: Die bekannten Balladen sind bester Musicalkit­sch, die Dissonanze­n in den Politszene­n wirken aber aufgesetzt, die Rock-Elemente sind schlecht gealtert – und zur argentinis­chen Musikkultu­r findet „Evita“kaum einen Bezug, von etwas Tango-Ramtamtam abgesehen. Schade ist, dass man sich in Ulm nicht getraut hat, die englische Originalfa­ssung zu spielen, denn die steifen deutschen Texte („Dieses Treffen war nicht eingeplant, ich lass dem Schicksal einfach seinen Lauf“) nehmen diesem Musical viel von seinen Pop-Qualitäten.

Dennoch: Mit dieser unter dem Strich gelungenen Inszenieru­ng ist für das Theater Ulm ein erfolgvers­prechender Sommer angebroche­n. ⓘ

Termine „Evita“wird bis 17. Juli auf der Wilhelmsbu­rg gespielt.

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Foto: Jochen Klenk In der Ulmer Version von Andrew Lloyd Webbers weltweitem Musical-Hit ist Julia Steingaß (oben auf) die Evita.

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