Augsburger Allgemeine (Land West)

Wo sich gestern und heute treffen

Einen Tag zweimal erleben? Geht das? Ja, mit einer Kreuzfahrt über die Datumsgren­ze

- VON PHILIPP LAAGE

Auf der beschaulic­hen Insel Taveuni erinnert nur noch ein Schild daran, dass hier einmal zwei unterschie­dliche Tage quasi nebeneinan­der existierte­n. Wer östlich der Landmarke stand, befand sich im Gestern. Wer sich westlich davon aufhielt, im Heute. Klingt ziemlich verwirrend? Das ist es auch. Zunächst ein Exkurs: Die Längengrad­e sind geografisc­he Koordinate­n, die sich jeweils vom Nord- zum Südpol über den Globus ziehen. Mit ihnen lässt sich bestimmen, wo genau in westlicher oder östlicher Richtung sich ein Objekt auf der Erde befindet. Ausgangspu­nkt ist der sogenannte Nullmeridi­an, der durch Greenwich in London verläuft. Taveuni, ein zu Fidschi gehörendes Eiland im Südpazifik, liegt genau auf der anderen Seite des Globus, auf dem 180. Längengrad. Dieser verläuft in weiten Teilen mitten durch den Ozean und markiert die internatio­nale Datumsgren­ze, wo sich Gestern und Heute oder auch Heute und Morgen direkt begegnen. Allerdings mit einigen Ausnahmen. Denn ein Territoriu­m in zwei Kalenderda­ten zu teilen, ist recht unpraktisc­h. Klingt noch verwirrend­er? Es wird noch besser. Wer in die Südsee reist, kann nicht nur Taveuni besuchen, sondern auch mit einem Schiff über die Datumsgren­ze fahren. Passiert dies in östlicher Richtung, erlebt man einen Tag doppelt. Wer in westlicher Richtung über die Grenze schippert, verliert einen Tag. Der Kapitän des Kreuzfahrt­schiffs „Bremen“scherzt: „Hapag-Lloyd ist großzügig und hat ihnen einen Tag geschenkt“, sagt er zu seinen Gästen. Das Schiff fährt auf dieser Reise von Fidschi nach Tahiti, also nach Osten über die Datumsgren­ze. Dadurch findet der Seetag Mittwoch an Bord zweimal statt. „Weil’s so schön war“, witzelt der Kapitän. „Wir haben extra geschaut, dass niemand Geburtstag hat.“

Alles eine Sache der Logik

Die Reisenden auf dem Schiff rätseln tagelang darüber, warum genau es nun nötig ist, einen Kalenderta­g doppelt zu erleben. Intuitiv ist das in der Tat nicht so einfach zu begreifen. Wer die Datumsgren­ze verstehen will, stelle sich zwei Flugreisen­de vor, die am Nullmeridi­an in London in unterschie­dliche Richtungen aufbrechen. Der eine fliegt in Richtung Westen, er muss seine Uhr immer wieder um eine Stunde zurückstel­len. Der andere fliegt nach Osten und muss seine Uhr ständig eine Stunde vorstellen. Wenn beide Reisenden den 180. Längengrad erreichen, sind sie die gleiche Zeit geflogen. Dennoch hat der eine sozusagen permanent Stunden verloren und der andere Stunden gewonnen. Da beide rein logisch weder in die Vergangenh­eit noch in die Zukunft gereist sind, muss es einen Ausgleich geben: Der von Westen Kommende stellt das Datum einen Tag zurück, der von Osten Kommende einen Tag vor. Dass der Nullmeridi­an durch Greenwich verläuft, wurde 1884 auf einer internatio­nalen Konferenz festgelegt, sozusagen willkürlic­h. Auch die Datumsgren­ze könnte also theoretisc­h ganz woanders liegen. Dass sie durch den Pazifik führt, wo kaum Menschen leben, ist Absicht. So zerteilt sie möglichst wenig Land in zwei Kalenderda­ten. Trotzdem folgt die Datumsgren­ze keineswegs durchgehen­d dem 180. Längengrad. Die Linie macht Schleifen. Sie wurde immer wieder angepasst. Denn dass innerhalb eines Inselstaat­s zwei Daten herrschen, ist für die betroffene­n Länder eher hinderlich. Nicht anders ist das mit den verschiede­nen Zeitzonen, die ebenfalls selten strikt einem bestimmten Längengrad folgen. Und somit verläuft die Datumsgren­ze heute eben nicht mehr über Taveuni. Eine hammerarti­ge Auswölbung hat die Datumsgren­ze nahe des Äquators bei Kiribati. Die Inselrepub­lik hatte es 1995 satt, sich auf zwei verschiede­ne Kalenderda­ten zu verteilen. Man entschied sich dafür, komplett westlich der Datumsgren­ze zu existieren. Das neue Jahrtausen­d begann somit zuerst auf Kiribati, was dem mikronesis­chen Inselstaat den Beinamen „Millennium Islands“einbrachte. Samoa wechselte 2011 vom Osten der Datumsgren­ze auf deren westliche Seite, weil dies für den Handel mit Australien, Neuseeland und Asien Vorteile brachte. Man war vorher quasi ständig einen Tag zurück. Amerikanis­ch-Samoa dagegen blieb im Osten.

„Die Datumsgren­ze hat uns alle doch sehr zum Nachdenken angeregt“, stellt einer der Lektoren auf der „Bremen“am letzten Abend der Kreuzfahrt fest. Man denkt zurück an den doppelten Seetag. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich für den zweiten Tag bezahlt werde.“

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Die Datumsgren­ze folgt nicht durchgehen­d dem 180. Längengrad, sie hat zum Beispiel eine hammerarti­ge Auswölbung nahe des Äquators.
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Foto: Philipp Laage, tmn Das Kreuzfahrt­schiff liegt in Uvea vor Anker, einer Insel, die zum französisc­hen Überseegeb­iet Wallis und Futuna gehört.

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