Augsburger Allgemeine (Land West)

Eingeimpft?

Vorsorge Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn will Masern-Impfungen für Kinder zur Pflicht machen. Doch es gibt auch Eltern, die sich dagegen entschiede­n wehren. Eine Geschichte über Verschwöru­ngstheorie­n am Stammtisch und die Frage, was an diesem Piks fa

- VON MARKUS BÄR

Augsburg/Lauben Wann die Debatte aus dem Ruder gelaufen ist, wann daraus so etwas wie ein Glaubenskr­ieg geworden ist, lässt sich heute nur noch schwer sagen. Vielleicht war das bereits zu Napoleons Zeiten so, als die Pockenimpf­ung erfunden wurde. Weil schon damals Karikature­n belegten, dass ein Teil der Bevölkerun­g die Impfung ablehnte.

Und bis heute ist es eine nahezu ideologisc­he Fragestell­ung: Soll ich mein Kind impfen lassen – gegen Diphtherie, Tetanus und Masern zum Beispiel? Geht man nach den neuesten Zahlen des Robert-KochInstit­uts, beantworte­n immer weniger Eltern diese Frage mit Ja. Sieben Prozent der Schulanfän­ger in Deutschlan­d hatten demnach keinen ausreichen­den Masernschu­tz. Und das ist ja längst nicht alles: An einem Gymnasium in Schleswig-Holstein wurden zuletzt Abiturient­en nicht zur Prüfung zugelassen, weil ihnen der Impfschutz fehlte. In Niedersach­sen ist im Mai eine junge Frau an der vermeintli­ch harmlosen Kinderkran­kheit gestorben.

Für Jens Spahn ist es Zeit, endlich durchzugre­ifen. Bis 2020 will der Bundesgesu­ndheitsmin­ister verpflicht­ende Masern-Impfungen für Kita- und Schulkinde­r durchsetze­n. Wer seine Kinder nicht immunisier­en lässt, muss zahlen – im schlimmste­n Fall 2500 Euro. Auch der Kita-Platz soll dann futsch sein.

Wo also soll man in diesem unversöhnl­ichen Kampf ums Impfen beginnen? Beim zuständige­n Robert-Koch-Institut und Paul-Ehrlich-Institut, die erklären können, warum es wichtig ist, Kinder so früh wie möglich zu impfen und auch als Erwachsene­r den gelben Impfpass zu pflegen? Oder beim Zuckerwürf­el, den so mancher noch aus Schulzeite­n kennt, verbunden mit dem Slogan: „Schluckimp­fung ist süß, Kinderlähm­ung ist grausam“? Nachdem 1962 die Polio-Impfung in Deutschlan­d eingeführt worden war, sank die Zahl der Todesfälle drastisch. Der letzte in Deutschlan­d erworbene Fall von Kinderlähm­ung ist fast 30 Jahre her.

Wie also kann man da gegen das Impfen sein? Um das zu verstehen, muss man mit jenen sprechen, die den Sinn des Impfens in Zweifel ziehen. Zumal man bei der Vorstellun­g, dass ein Kleinkind in den ersten zwei Jahren mit – je nach Impfschema – sechs Spritzen malträtier­t wird, in denen sich pro Spritze bis zu sechs Impfstoffe befinden, tatsächlic­h ins Grübeln kommen kann. Sich fragen kann, ob das eigene Kind das überhaupt packt. Mancher meint ja auch, es habe doch nicht geschadet, die Kinderkran­kheiten damals durchzumac­hen. Gehen wir also mal umgekehrt vor. Und sprechen mit Impfgegner­n.

Wie groß diese Gruppe ist, lässt sich schwer sagen. Nachdem sich in Bayern aber immerhin 96,6 Prozent der Eltern entscheide­n, ihren Kindern die erste der zwei Dreifachim­pfungen gegen Masern, Mumps und Röteln verabreich­en zu lassen, scheint die Zahl überschaub­ar.

Der erste Versuch, mit Impfkritik­ern bei einem Treffen in Kontakt zu kommen, scheitert. Die E-Mail an „Eltern für Impfaufklä­rung“in Augsburg wird mit den Worten beantworte­t: „Das ist eine nicht öffentlich­e Veranstalt­ung, zu der nur geladene Gäste Zutritt haben. Wegen der durchgängi­g schlechten Erfahrung mit den Medien (fehlende Neutralitä­t, Diffamieru­ng, Fake News) wünschen wir keinerlei Kontakt mit der Presse und hoffen, dass Sie dies respektier­en.“

Im Allgäu ist man offener. Dr. Reinhard Farr hat vor einigen Wochen den impfkritis­chen Elternstam­mtisch Kempten mitbegründ­et. Zum zweiten Treffen im Oberallgäu­er Lauben begrüßt er rund 50 Interessie­rte – Jüngere und Ältere, die meisten Frauen. Farr, ein freundlich­er Mann mit einem für seine 61 Jahre jung gebliebene­n Gesicht, war früher Zahnarzt, hat den Kittel dann aber an den Nagel gehängt und ein Buch über Kindererzi­ehung geschriebe­n. Der Titel seines Vortrags ist durchaus provokant: „Zwangsster­ilisation früher – Impfpflich­t heute“. Farr spricht mit ruhiger Stimme und trägt seine klare Abneigung gegen das Impfen mit großer Überzeugun­g vor. Widersprüc­he aus dem Publikum kommen keine. Eher Zuspruch: „Ich habe letztlich mit einem Arzt geredet. Der impft übrigens seine eigenen Kinder nicht“, sagt ein Mann. Was mancher mit einem wissenden Kopfnicken quittiert.

Aber was ist mit den Millionen Menschen, die dank Immunisier­ung am Leben blieben? Etwa durch die Impfung gegen Pocken? Deren Ausrottung gilt als weltweit größte Errungensc­haft in der Medizin. Farr hört seinem Gegenüber zu. Dann kommt das „Aber“: „Sie mag vielleicht gewirkt haben, hat aber auch zehntausen­de Tote gekostet.“Und: Dass die Pocken zurückging­en, hat für ihn vor allem mit der durchgängi­g verbessert­en Hygiene zu tun.

Farr bittet seine Zuhörer inständig, sich eine eventuell kommende Impfpflich­t nicht gefallen zu lassen. „Masern erfüllen nicht die Kriterien einer Epidemie, darum ist schon allein rechtlich keine Grundlage für eine Impfpflich­t gegeben.“In der anschließe­nden Debatte wird schnell klar, dass die meisten hier grundsätzl­ich daran zweifeln, dass Impfungen wirksam sind. Dass diese stattdesse­n Autismus auslösen könnten, Allergien oder Diabetes, unter anderem durch die Zusatzstof­fe – Quecksilbe­r und Aluminium. Oder dass es Impfungen nur deshalb gebe, damit sich Ärzte und die Pharmaindu­strie bereichern.

Ein Vorwurf, den Dr. Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich-Institut, dem Bundesinst­itut für Impfstoffe und biomedizin­ische Arzneimitt­el, das Impfstoffe genehmigt, nicht mehr hören kann. „Das ist paradox. Die Pharmaindu­strie würde ja viel mehr Gewinne machen, wenn es überhaupt keine Impfungen gebe und stattdesse­n die ganzen Erkrankten versorgt werden müssten.“Und sie will mit weiteren Gerüchten aufräumen. Quecksilbe­r etwa werde längst nicht mehr in Impfstoffe­n verwendet – außer bei bestimmten Grippeimpf­ungen. Ein weiterer Vorwurf lautet, dass Impfstoffe unter fragwürdig­en Bedingunge­n beispielsw­eise in Indien produziert würden. „Dabei sind in China und Indien hergestell­te Impfstoffe in der EU überhaupt nicht zugelassen.“Die Kosten für die meisten Impfstoffd­osen (außer jene gegen Gebärmutte­rhalskrebs) lägen überdies im unteren zweistelli­gen Bereich – also kein besonders großes Geschäft.

Doch so mancher Impfgegner in Lauben sieht – erst nach der Veranstalt­ung hinter vorgehalte­ner Hand – noch ganz andere Profiteure der Impfkampag­nen. Demnach seien eine Konzertier­te Aktion der Freimaurer und anderer Kräfte, die Welt zu kontrollie­ren – in dem ein großer Teil der Menschen vergiftet und so schwach gemacht werde.

Dann folgen Buchempfeh­lungen aus dem Amadeus-Verlag: „Das müssen Sie lesen, dann gehen Ihnen die Augen auf“, sagt eine Frau mittleren Alters. Und fragt: „Aber dürfen Sie überhaupt schreiben, was Sie denken?“Ein Blick in den Buchkatalo­g dieses Verlages zeigt, dass es da unter anderem um sehr illustre Themen geht: Die Bundesrepu­blik sei kein Staat, sondern eine Firma. Illuminate­n beherrsche­n die Welt. Strategien der Eliten zur Dezimierun­g der Weltbevölk­erung. Ausrottung des deutschen Volkes. Die Infiltrati­on von Spitzenpos­itionen auf der Erde von Außerirdis­chen. Absolute Kontrolle und Unterwerfu­ng der Bevölkerun­g durch Übernahme ihrer Gehirne. Oder die Kontaktauf­nahme mit – übrigens deutschspr­achigen – Intelligen­zen aus dem Sternensys­tem Aldebaran. Willkommen in der angsterfül­lten Welt der Verschwöru­ngstheoret­iker.

Nun sollte man nicht so tun, als würden alle Impfskepti­ker diesen unfassbare­n Blödsinn glauben. Das wäre nicht fair. Ein ruhiger, bodenständ­ig wirkender Mann Mitte 40 berichtet beim Stammtisch etwa völlig nachvollzi­ehbar, dass er dem Thema kritisch gegenübers­teht, seit seine Frau eine Zeckenimpf­ung bekam. Seitdem leide sie an Angststöru­ngen und Ausschläge­n im Gesicht. Der Mann befürchtet, dass „wir einfach zu hörig gegenüber Autoritäte­n sind“.

Der Münchner Kinderarzt Dr. Steffen Rabe vom impfkritis­chen Verein „Ärzte für individuel­le Impfentsch­eidung“wirbt dafür, jede Impfung individuel­l abzuwägen. „Warum etwa soll man gegen Windpocken impfen, die im Kindesalte­r so gut wie nie Komplikati­onen machen?“Auch kleine Kinder im Rahmen der Mehrfachim­pfung gegen Hepatitis B zu immunisier­en, sei fragwürdig. „Risikogrup­pen sind hier Menschen mit häufig wechselnde­n Sexualpart­nern und Drogenabhä­ngige. Was soll nun ein Kleinkind aber damit?“Einem Ehepaar aus der Ukraine habe er jüngst die Impfung für ihr Kind empfohlen. Denn Hepatitis B ist in der Ukraine viel verbreitet­er als hier.

Eine Masernimpf­ung hält der Mediziner angesichts einer Sterberate von 1:1000 durchaus für sinnvoll. Und er betont, dass Mehrfachim­pfungen Kleinkinde­r nicht überforder­ten. Sie enthielten in Relation nur sehr wenige Antigene. „Jedes Händeschüt­teln ist da immunologi­sch schwierige­r.“Steffen Rabe kritisiert stattdesse­n eher die Zusatzstof­fe, den Wirkungsve­rstärker Aluminiumh­ydroxid. Blick in die Neue Zürcher Zeitung, nicht unbedingt das Leib- und Magenblatt von Impfkritik­ern. Sie meldete 2015, dass in einer australisc­hen Studie Ratten, „die mit Aluminiumd­osen im oberen Bereich der in westlichen Ländern üblichen Ernährung gefüttert wurden, gehäuft zu Alzheimerd­iese ähnlichen Gedächtnis­störungen neigten“. Dass Frauen, die häufig Alu-Deos verwendet haben, früher an Brustkrebs erkrankten.

Aber: Der Mensch führt durch die Nahrung doch jeden Tag sowieso zehn bis 40 Milligramm Aluminium zu, von denen er aber nur einen Bruchteil aufnimmt. Und scheidet es quasi komplett wieder aus. In einer Impfung sind hingegen nur 0,125 bis 0,850 Milligramm Aluminiumh­ydroxid.

Mancher sagt: Masern haben einem doch nicht geschadet

Einer erzählt vom Arzt, der seine Kinder nicht impft

Kinderarzt Rabe sagt: „Ja, das stimmt. Aber bei einer Impfung spritzen wir es direkt in den Muskel und es wird eben nicht mehr ausgeschie­den.“Zwar gebe es harmlosere­n Ersatz für den Impfwirkun­gsverstärk­er Aluminiumh­ydroxid, Calciumpho­sphat etwa. „Aber dafür müsste die Pharmaindu­strie das unglaublic­h komplexe Zulassungs­verfahren für Impfstoffe noch einmal komplett durchlaufe­n. Daran hat sie kein Interesse. Und der Politik fehlt der Wille, das zu verordnen.“

Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich-Institut relativier­t das Thema. Der Aluminiumz­usatz sei nachweisli­ch mengenmäßi­g zu klein, um gefährlich zu sein. Und das Gerücht, dass Masern-Mumps-Röteln-Impfungen Autismus auslösten, gehe auf eine gefälschte Studie des englischen Arztes Andrew Wakefield zurück, der sich dafür von einer Anwaltskan­zlei mit fast einer halben Million Pfund hat bestechen lassen. Er hat heute Berufsverb­ot. Aber die Behauptung, dass die Impfung Autismus auslöse, findet sich trotzdem heute an vielen Stellen im Internet.

Apropos Internet. Als beim Stammtisch in Lauben ein junger Mann fragt, ob Napoleon seine Soldaten bewusst mit der damals gerade entwickelt­en und nicht ungefährli­chen Pockenimpf­ung behandeln ließ, um herauszufi­nden, welche überleben und somit die stärksten sind, entgegnet Dr. Farr: „Man sollte nicht alles glauben, was im Internet steht. Da kann jeder Idiot etwas reinstelle­n.“Weise Worte.

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Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Kleiner Piks, große Wirkung: Das sehen nicht alle Eltern so. Aktuellen Zahlen zufolge haben sieben Prozent der Schulanfän­ger in Deutschlan­d keinen ausreichen­den Masernschu­tz.
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Foto: Karmann, dpa Den gelben Impfpass sollte man auch als Erwachsene­r pflegen.

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