Augsburger Allgemeine (Land West)

Späte Vergebung für einen tödlichen Stich

Drama Matthias Behr ist einer der weltbesten Fechter, als seine abgebroche­ne Klinge Olympiasie­ger Wladimir Smirnow trifft. Jahrzehnte­lang versucht er, mit dessen Witwe zu sprechen. Eine bewegende Geschichte über Schuld, ungelesene Briefe und die Tage, die

- VON MANFRED SCHWEIDLER

Würzburg Unerwartet weicht der Regen, die Sonne zaubert ein mattes Gold auf die wuchtige Fassade der Würzburger Residenz. Fast so, als meine es der Himmel gut mit dieser Begegnung. Emma Smirnowa aus Kiew mustert die mächtigen Mauern. Dann lächelt sie dem Mann zu, dessen Florett vor 37 Jahren ihren Mann Wladimir getötet hat. Und Matthias Behr, den dieser Tod so lange gequält hat, zeigt plötzlich dieses Lausbubenl­ächeln, das er sich auch mit 64 Jahren bewahrt hat.

Emma Smirnowa und Matthias Behr wissen beide um diesen besonderen Moment: Die Mauern, die sie für diese Begegnung im Frühsommer 2019 überwinden mussten, waren viel höher als die der Würzburger Residenz – aber nun stehen sie beide hier, die Ukrainerin und der Deutsche, angekommen nach einer langen Reise zu sich selbst.

Während Emma und ihre Familie der russischen Fremdenfüh­rerin zuhören, wird Behr gefragt, wie er sich fühle. Der schließt die Augen, hört in sich hinein, sagt: „Es ist die Erfüllung eines weiteren Traums.“So versöhnlic­h wirkt dieses Bild – im Gegensatz zu dem anderen, das auf ewig mit dem Namen des Ausnahmefe­chters verbunden ist: Wie der junge Topathlet mit ungläubig aufgerisse­nen

Er spürte noch, wie die Waffe durch die Maske ging

Augen ins Leere starrt, vor 37 Jahren in der Fechthalle in Rom. Wie er hin und her läuft, das Gesicht im Handtuch vergraben will und dann doch wieder entsetzt und hilflos zu den Helfern schaut, die neben der Fechtbahn knien. Weltmeiste­r Wladimir Smirnow, der Mann, den Behr nicht nur einen Gegner, sondern auch einen Freund nennt, liegt blutend am Boden.

Behr wird später den Moment verfluchen, als sich die beiden Meister im Florett gegenübers­tanden, im Viertelfin­ale der Weltmeiste­rschaft an jenem unseligen 19. Juli 1982. Zwei Topathlete­n kreuzen die Klingen, stürzen aufeinande­r los.

Auf der einen Seite der Planche: Behr, 27 Jahre alt, Olympiasie­ger 1976, Weltmeiste­r 1977, Weltcupsie­ger 1978. Ihm gegenüber: Wladimir Smirnow, 28, Olympiasie­ger 1980, zweimalige­r Weltmeiste­r 1981. Noch viele Jahre später ist der Moment für Matthias Behr so präsent wie damals. Er trifft Smirnow im oberen Brustberei­ch. Die Klinge bricht ab, die Vorwärtsbe­wegung ist nicht mehr zu kontrollie­ren. „Ich habe gespürt“, sagt Behr, „wie die Waffe durch die Maske ging.“

Die Fechtwettb­ewerbe werden fortgesetz­t. Ohne Behr, der sich quält, obwohl ihm viele versichern, dass ihn keine Schuld trifft. Die Deutschen verlieren. Die Sowjets werden Weltmeiste­r. Neun Tage später stirbt Wladimir Smirnow im Spital in Rom.

Dieser Moment, er fehlt bis heute in kaum einer Dokumentat­ion über tragische Unfälle im Leistungss­port. Er führt zu heftigen Diskussion­en um die Sicherheit der Athleten und zu deutlichen Material-Verbesseru­ngen bei Schutzwest­en, Masken und Waffen. Das tröstete Behr zumindest ein wenig. „So war mein Unfall doch noch zu etwas nütze.“Aber der Sportler, in dessen bärenhafte­m Körper eine sensible Seele schlummert, bekommt die Szene nicht mehr aus dem Kopf. Sie verfolgt ihn wie ein Dämon.

Behr will zur Beerdigung nach Kiew reisen. Doch er hat Angst, dass manche mit dem Finger auf ihn zeigen. Dass man ihn als Mörder beschimpft. Was ihn besonders quält: Der Gedanke, dass Smirnows Kinder – wie er selbst – ohne Vater aufwachsen müssen. Das hat den jungen Matthias Behr geprägt und zu dem Fechtchef Emil Beck getrieben, diesem autoritäre­n Ersatzvate­r.

Emma ist damals 27 Jahre alt und schwanger. Behr schreibt der Witwe einen Brief nach Kiew – und erhält keine Antwort. Im Lauf der Jahre schreibt er viele weitere – und ahnt nicht, dass sie von sowjetisch­en Funktionär­en zurückgeha­lten werden, denen eine versöhnlic­he Geste nicht in den Kram passt. Behr, der Ausnahme-Sportler, will mit dem Fechten aufhören. Doch Beck, sein Übervater im Guten wie im Bösen, überzeugt ihn vom Gegenteil. Also macht er weiter, um eine Aufgabe zu haben, die ihm beim Vergessen hilft. Ein Jahr später wird Behr in Wien mit dem Team Weltmeiste­r.

Das Konzentrie­ren auf das Fechten hilft. 16 Medaillen erkämpft er sich, wird Weltmeiste­r und Olympiasie­ger. Es ist die große Zeit der „Goldschmie­de“von Tauberbisc­hofsheim. Doch Behr geht der Unfall nicht aus dem Kopf. Das Leben zwingt ihm andere Gefechte auf, zuoberst die gnadenlose Erwartungs­haltung Becks, der von seinen Zöglingen erwartet, alles andere dem Fechten unterzuord­nen.

Und doch lässt ihn die Frage nicht los: Wie geht es Smirnows Familie?

Behr hadert mit sich, mit der Scheidung von seiner ersten Frau, dem plötzliche­n Tod der Mutter, dem Zerwürfnis mit Beck, der enttäuscht ist, dass Behr auch andere Dinge wichtig nimmt. Und Emma Smirnowa? Die ahnt irgendwie, dass sich dieser lange Deutsche Vorwürfe macht wegen Wladimirs Tod – grundlos, denkt sie.

Lange ahnt keiner, dass Behr verist. Viele Jahre später schreibt er ehrlich in ein Buch: Er will sein Leben beenden. Er steht auf einer Autobahnbr­ücke, will schon springen, als ihn ein Gedanke durchzuckt: „Was, wenn ich durch meinen Sprung jemanden mit in den Tod reiße? Jemanden töte, obwohl ich das nicht will?“Behr klettert zurück, sucht sich Hilfe – und findet sie. Und wieder versucht er, Smirnows Witwe zu finden.

Als er schon nicht mehr an den Erfolg glaubt, kommt 2017 der Anruf des Journalist­en Michael Dittrich. Der recherchie­rt gerade für einen Dokumentar­film über Behr. „Sitzt du?“, fragt er. „Ich habe die Telefonnum­mer von Emma Smirnowa. Sie will mit dir sprechen.“Behr ist sprachlos, nur kurz. Wenige Tage später ruft er mithilfe einer Dolmetsche­rin Emma Smirnowa an. Er redet, sie redet. Wichtige Worte: „Ich möchte Ihnen sagen, dass wir nie der Ansicht waren, dass Sie eine Schuld trifft“, sagt sie. Er weint, sie weint. Sie lädt ihn nach Kiew ein.

Am 8. Juni 2017 steigt Behr in Frankfurt ins Flugzeug – ganz allein wie beim Fechten. Das muss er allein austragen, mit seinem Dämon und mit Emma. Worauf er hofft? Zumindest erklären zu dürfen, wie das alles kam. Dann steht der 1,95-Meter-Mann vor der einen Kopf kleineren Frau mit dem wissenden Lächeln im Gesicht. Sie redet nicht viel, kommt schnell auf Punkt. Behr erntet viel mehr, als er erhofft hatte. Er lernt Smirnows Kinder kennen, Emmas neuen Mann und ein erstes Wort auf Ukrainisch: Sim’ya heißt Familie, ein wichtiges Wort in Emmas wie in Behrs Leben. An Wladimir Smirnows Grab, vor der pathetisch­en Büste des sowjetisch­en Sporthelde­n, sagt sie ihm noch einmal: „Matthias, du trägst keine Schuld!“

Dieser Satz „kam mir wie eine Erlösung vor“, sagt Behr nach seiner Rückkehr. Vier Tage verbrachte er bei Emmas Familie in der Ukraine, kein böses Wort fällt. Stattdesse­n werden Gemeinsamk­eiten deutlich: Auch Emma litt auch an Depression­en nach dem Tod ihres Mannes.

Behr wirkt wie umgewandel­t, fröhlich statt verbissen mit sich und seiner Umwelt hadernd, wie man ihn zuletzt als Leiter des Olympiastü­tzpunktes Fechten erlebt hatte. Er genießt die wiederkehr­ende Wertschätz­ung, als die Medien die Geschichte dieser Odyssee zwischen Ost und West aufgreifen. Plötzlich sind Emma Smirnowa und er ein Beispiel dafür, wie Gräben überwunden werden können.

Es tut dem zuletzt Geschmähte­n gut am Ende seiner Karriere, mit solchen Schlagzeil­en die Tür zu dem Teil seines Lebens hinter sich schließen zu können – nach den unschönen Schlagzeil­en im Jahr 2017. Der Olympiastü­tzpunkt Tauberbizw­eifelt schofsheim war ins Gerede gekommen. Sportlerin­nen hatten behauptet, jahrelang von einem Trainer sexuell belästigt worden zu sein. Behr hat Verwicklun­gen stets dementiert. Manche reden von einer Intrige, in die man ihn hineinzieh­en wollte.

Emmas Gegenbesuc­h nun macht die Geschichte perfekt. Sie will das Fechtzentr­um sehen, um das sich Behrs Leben so lange gedreht hat. Er führt sie entlang der „Wall of Fame“, der Ruhmeswand, die an die großen Erfolge von Tauberbisc­hofsheim erinnert. Hier hat er im vorigen Jahr still seinen Schreibtis­ch geräumt, hat sich in den Ruhestand verabschie­det. Auf eine große Abschiedsg­ala hat er verzichtet, verlogene Kompliment­e wollte er sich sparen. Nun ist er nur noch Besucher – mit Emma, ihrem Mann und ihrem 13-jährigen Enkel Artimje.

„Am Anfang war das alles etwas schwierig“, erzählt Emma von den ersten Telefonges­prächen mit Dolmetsche­r. Aber sie ahnte: „Irgendwo auf der Welt lebt da ein Mensch, der sich wegen Wladimirs Tod bittere Vorwürfe macht.“Als nach über drei Jahrzehnte­n plötzlich der Kontakt zustande kam, sei sie sehr erleichter­t gewesen, sagt Emma, die inzwischen eine kleine Berühmthei­t ist: Die Welt hat über das Duo geschriebe­n, die Bunte und viele mehr. Markus Lanz hat sie eigens nach Hamburg zu seiner Sendung einfliegen lassen. Das war nett, aber wirkden lich gespannt ist Emma Smirnowa auf Behrs Familie.

Fast zwei Jahre nach der ersten Begegnung in Kiew ist es nun so weit: Behr liegt erkennbar daran, Emma die Tür zu seinem Leben zu öffnen, zu seiner Familie und seiner Heimat – so, wie sie, die Witwe des Fechters, es für ihn in Kiew gemacht hatte. Dass der Besuch auf Emmas 65. Geburtstag fällt, macht es noch schöner. Voller Stolz zeigt Behr ihr Würzburg und seine Heimatstad­t Tauberbisc­hofsheim. Es gibt Bierkrüge für Emmas zweiten Mann in einer Brauerei, einen Händedruck vom Bürgermeis­ter und ein paar schöne Bilder im Fernsehen. Emma schaut sich das alles an, hellwach, interessie­rt – und leise amüsiert, als die Stadtführe­rin im Ornat eines Nachtwächt­ers erscheint.

Es gibt aber auch diesen einen, sehr privaten Moment – ohne Zeugen und Kameras: Beim Abendessen mit Behrs Frau, der ehemaligen Fecht-Olympiasie­gerin Zita Funkenhaus­er, und den Zwillingst­öchtern Leandra und Greta hält Emma eine kurze Rede. Der Kernsatz lautet: „Du hast hier eine wundervoll­e Familie, aber du bist jetzt auch ein Teil unserer Familie.“Noch Tage später ist Behr ergriffen davon. Er steht auf dem Schlosspla­tz seiner Heimatstad­t und ringt nach Worten, die irgendwie die Magie dieses Momentes wiedergebe­n, ohne hohl und pathetisch zu klingen. Vielleicht so: Dieser ewige Strafproze­ss, den er in seinem Innern seit Smirnows tragischem Tod 1982 mit sich selbst führte, ist zu Ende – mit einem Freispruch. Gott sei Dank, sagt Behr, wie Emma gläubiger Katholik.

Am nächsten Tag kommt vom Flughafen noch eine SMS: „Lieber Matthias, ich bin unendlich dankbar für einen so herzlichen Empfang, für deine und Zitas Aufmerksam­keit.“Dann fliegen Emma und ihre Familie heim, in ihr Leben in Kiew. „Das ist nicht das Ende“, sagt Behr mit einem Lächeln, es gibt ja Internet, WhatsApp, Skype. „Das ist erst der Anfang von etwas, das ich weiter pflegen möchte.“Ein wichtiges Wort in ukrainisch­er Sprache kennt Behr ja nun schon: Sim’ya.

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Foto: UPI, dpa Das Entsetzen sieht man ihm an: der Florettfec­hter Matthias Behr nach dem tragischen Unfall 1982 in Rom. Neun Tage später ist sein Gegner Wladimir Smirnow tot.

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