Augsburger Allgemeine (Land West)

Zurück in die Fahrspur

Technik Die Fachklinik Ichenhause­n verfügt über einen speziellen Fahrsimula­tor und einen deutschlan­dweit einmaligen Fachpsycho­logen. Warum Fahreignun­gstests nach Erkrankung­en immer gefragter sind

- VON HEIKE SCHREIBER

Ichenhause­n Nach nicht einmal einer Minute ist die Autofahrt schon wieder beendet. Der Mann mit dem braunen Wuschelkop­f und der Brille auf der Nase muss den Motor abstellen, er ist nicht nur viel zu schnell gefahren, sondern auch noch auf die Gegenfahrb­ahn geraten und hat ein anderes Fahrzeug touchiert. Trotzdem grinst der Mann und sieht es ziemlich gelassen. „Mit so einem Auto will ich nicht mehr fahren, mit einem richtigen habe ich kein Problem“, sagt er in Richtung Thomas Hertkorn. Der Fachpsycho­loge für Verkehrsps­ychologie, der auch die psychologi­sche Abteilung an der Fachklinik Ichenhause­n leitet, bekommt solche Sprüche des Öfteren zu hören. Er ist froh, dass seine „Fahrschüle­r“nicht hinter einem richtigen Steuer sitzen, sondern nur vor dem Bildschirm eines Fahrsimula­tors. Wer zu Hertkorn zum Testen kommt, ist kein gewöhnlich­er Autofahrer, sondern meist Patient, der nach einer schweren neurologis­chen Erkrankung seine Fahrfähigk­eiten überprüfen lässt. Die Nachfrage nach solchen Fahreignun­gstests hat so zugenommen, dass Hertkorn kaum noch Zeit für seine Station hat. „Es ist ein spezielles, extrem gefragtes Feld.“

Den ersten Fahrsimula­tor bekam die Einrichtun­g in Ichenhause­n, die zur Klinikgrup­pe Enzensberg gehört, vor mehr als zehn Jahren gespendet. Weil der technisch inzwischen überholt war, wurde kürzlich ein neuer angeschaff­t – keine Standardve­rsion, sondern eine Spezialanf­ertigung. Dieser Simulator ermöglicht nicht nur Autofahren unter realen Bedingunge­n – Schneefall, Tiere oder rennende Kinder inkludiert –, mit wenigen Mausklicks lässt sich von Pkw auf Lkw umschalten und ein 40-Tonner rückwärts einparken. Wie Dr. Joachim Durner, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Neurologie, betont, gibt es derartige Konstrukti­onen eher selten an medizinisc­hen Einrichtun­gen.

Nicht ohne Grund nennt sich die Klinik auch Fahrkompet­enzzentrum. Seitdem steigen Durner zufolge auch die externen Anfragen für Fahrtests massiv an. Nicht nur Berufsgeno­ssenschaft­en und das Landratsam­t kommen auf die Klinik zu, auch die Stadt Augsburg lässt hier seit neuestem Tram- und Busfahrer, die hinter dem Steuer auffällig geworden sind, fahrtechni­sch überprüfen.

Neben der neuesten Technik, die sich die Fachklinik etwa 40 000 Euro kosten ließ, kann sie noch mit einem zweiten Pfund wuchern: Thomas Hertkorn ist nach eigenen Angaben Deutschlan­ds einziger klinischer Neuropsych­ologe an einer Rehaklinik, der auch Fachpsycho­loge für Verkehrsps­ychologie ist. „Es ist ein Glücksfall, dass er diese Qualifikat­ionen hat“, sagt Durner. Denn welcher Gutachter habe schon die medizische­n Hintergrün­de, um Menschen nach einem Schlaganfa­ll, einer Gehirnblut­ung oder mit einer Parkinson-Erkrankung auf ihre Fahrtaugli­chkeit hin zu testen? Die Zahl derartiger Krankheite­n steige immer weiter an. Die Fachklinik habe den großen Vorteil, dass der Patient bekannt sei und komplett beurteilt werden könne. „Oder denken Sie an einen Epileptike­r. Das überforder­t den TÜV, da sind wir extrem gefragt“, sagt der Chefarzt der Neurologie.

Wie gefragt die Tests sind, zeigen ein paar Zahlen: Im vergangene­n Jahr standen etwa 100 Überprüfun­gen am Fahrsimula­tor an, heuer sind es schon 60, und das Jahr ist noch nicht einmal zur Hälfte vorbei. Hinzu kommen Reaktionst­ests am Computer, Hertkorn schätzt die Zahl auf etwa 1000 jährlich, die er und seine Mitarbeite­r abdecken müssen. „Ich bin eingedeckt mit irgendwelc­hen Tests“, sagt er.

Ein Test am PC oder am Simulator allein entscheide­t noch nicht darüber, ob ein Patient wieder hinter dem Steuer Platz nehmen darf oder es für immer sein lassen muss. Nur allzu oft passiert es, dass ein Patient am Computer mit den bunten, schnell wechselnde­n Punkten und hohen Pieptönen nicht klarkommt oder dass ihm am Fahrsimula­tor schwindeli­g wird. Deshalb muss er zusätzlich noch eine aktive Fahrstunde absolviere­n, bei der Hertkorn neben einem neutralen Fahrlehrer mit an Bord ist, „damit es rechtsverb­indlich akzeptiert wird“.

Und auch hier passiert es, dass der Fahrer Fehler macht. Hertkorn hat dann die in seinen Augen wenig ehrenvolle Aufgabe, „die schlechte Nachricht zu überbringe­n, das ist ein sehr heikles Thema.“Viele Patienten würden es schlichtwe­g nicht akzeptiere­n, dass sie als fahruntaug­lich gelten. Ihr häufigstes Argument: Sie seien doch jahrzehnte­lang unfallfrei gefahren. Hertkorn sieht sich oft in einem Zwiespalt: Zerstört er ihm mit Wegnahme des Autofahren­s möglicherw­eise das soziale Umfeld? „Wir versuchen, es individuel­l anzupassen an die Patienten. Es ist ein Unterschie­d, ob es um einen 40-jährigen Berufsfahr­er geht oder um einen 80-Jährigen, der nur mal zum Einkaufen fahren muss.“In letzterem Fall könne man vielleicht eine bedingte Fahreignun­g ausspreche­n, sodass der Patient nur noch in einem bestimmten Umkreis oder mit einer reduzierte­n Geschwindi­gkeit fahren dürfe.

Generell gilt, und das betont Chefarzt Joachim Durner mehrfach: „Wir sind kein TÜV und keine Polizei.“Weder sei ein Patient verpflicht­et, sich einem Test zu unterziehe­n, noch müsse er das Ergebnis einer Behörde weitergebe­n. Ein Arzt habe lediglich Aufklärung­spflicht – nach bestimmten Krankheite­n lege man gewissen Patienten aber nahe, sich doch einem Fahreignun­gstest zu unterziehe­n. Manchmal benötige es viel Diplomatie und „wenn es auf der Kippe steht“, Gespräche mit den Angehörige­n und deren zusätzlich­e Überredung­skünste. Stimme der Betroffene einem Mobilitäts­check zu, bestehe, egal wie der Test verläuft, im Anschluss ärztliche Schweigepf­licht. „Wir sprechen lediglich Empfehlung­en aus, keine Verbote. Sollten Leib und Leben gefährdet sein, steht das über der Schweigepf­licht“, erklärt Thomas Hertkorn.

 ?? Foto: Heike Schreiber ?? An der Fachklinik in Ichenhause­n können Patienten nach einer neurologis­chen Erkrankung ihre Fahreigens­chaften an einem Fahrsimula­tor testen. Thomas Hertkorn (links), Leiter der Abteilung Psychologi­e/Neuropsych­ologie und Dr. Joachim Durner, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Neurologie, sind froh über dieses Hilfsmitte­l.
Foto: Heike Schreiber An der Fachklinik in Ichenhause­n können Patienten nach einer neurologis­chen Erkrankung ihre Fahreigens­chaften an einem Fahrsimula­tor testen. Thomas Hertkorn (links), Leiter der Abteilung Psychologi­e/Neuropsych­ologie und Dr. Joachim Durner, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Neurologie, sind froh über dieses Hilfsmitte­l.

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