Augsburger Allgemeine (Land West)
„Die Frustrationstoleranz ist gesunken“
Interview Im Straßenverkehr geht es oft ziemlich aggressiv zu. Damit beschäftigt sich heute auch die Bayerische Verkehrssicherheitskonferenz. ADAC-Experte Ulrich Chiellino über Raser und Ausraster
Herr Chiellino, warum fällt gegenseitige Rücksichtnahme im Verkehr so schwer?
Ulrich Chiellino: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen muss man sehen, dass die Frustrationstoleranz insgesamt gesunken ist. Das liegt daran, dass die Stressoren zugenommen haben. Also, es gibt mehr Staus, die Nahverkehrsmittel kommen immer häufiger verspätet, auch die Dichte des Verkehrs hat zugenommen. Dazu ist mit den E-Scootern noch eine neue Fahrzeugklasse dazugekommen. So wird der Platz auch auf den Fahrradwegen immer weniger. Das ist der eine Aspekt…
…und der andere?
Chiellino: Wenn wir uns im Verkehr als Pkw-Fahrer begegnen, so haben wir ein anderes Setting als in einer normalen Kommunikationssituation. Jeder sitzt geschützt in seinem Fahrzeug und muss keine emotionale Kontrolle ausüben. Das kann schon zu einer gewissen Enthemmung bei den Autofahrern führen. So rast der Puls öfter schnell nach oben. Dazu kommt der Faktor, dass wir ein starres Regelsystem haben. Wir können also sehr schnell erkennen, ob wir im Recht sind. Das kann wiederum dazu führen, dass es beim Aufeinandertreffen von bestimmten Charakteren zu Kurzschlusshandlungen kommt und sich der Zorn dann buchstäblich entlädt.
Aber in Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung heißt es: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Der Deutsche ist doch sonst eher gesetzestreu. Warum gilt das im Verkehr nicht?
Chiellino: Tja, das wäre eine ideale Vorstellung in einer idealen Welt, in der wir auch etwas gelassener mit Fehlern anderer umgehen. Aber die Wirklichkeit ist bekanntlich anders. Alle haben Termindruck und alles, was uns da auf dem Weg von A nach B in die Quere kommt, stört und sorgt für den entsprechenden Ärger.
Ist die Autobahn der letzte Wilde Westen für Asphaltcowboys? Chiellino: Ach nein, das stimmt so natürlich nicht. Statistisch gesehen ist die Autobahn ja sogar die sicherste Straße in Deutschland. Insofern kann man nicht sagen, dass es hier zugeht wie im Wilden Westen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht noch genügend Raser gibt. Aber die meisten Autofahrer halten sich an die Regeln. Das bestätigen auch die Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes. Von allen Führerscheininhabern, und das sind rund 40 Millionen, ist nur ein Viertel in Flensburg aktenkundig. Und die Zahl derer, die den Führerschein deswegen verlieren, liegt im Promillebereich.
Haben Sie auch schon einmal jemandem auf der Straße den Vogel gezeigt oder dürfen Sie da als ADAC-Psychologe nicht drüber reden?
Chiellino (lacht): Ich glaube, ich wäre übermenschlich, wenn ich das nicht schon einmal getan hätte. Ich neige auch dazu, im Auto schon mal emotionaler zu werden. Das geschieht dann, wenn mich ein anderer Verkehrsteilnehmer mit einem bewussten, sehr riskanten Fahrmanöver provoziert – Stichwort Spurwechsel. Aber ich habe mir die Fähigkeit antrainiert, mir sofort zu sagen: Ach geh’, das bringt doch nix! Dieser Ärger ist verschwendete Lebenszeit.
Die Deutschen sind zutiefst uneins: Über die Hälfte ist für ein generelles Tempolimit, 47 Prozent sind dagegen. Warum tun gerade wir uns so schwer, ein Tempolimit zu akzeptieren, wie es in vielen anderen Ländern üblich ist? Chiellino: Da gibt es unterschiedliche Lager, klar. Aber egal, ob es Autobahn, Landstraße oder städtischer Verkehr ist – wenn man das Gefühl hat, das vorgegebene Tempo passt nicht zur Verkehrsdichte und der Anzahl der Spuren, dann ist man verleitet schneller zu fahren. Es liegt Symbolfoto: dpa auch in der Natur des Menschen, sich nur schwer selbst zügeln zu können. Trotzdem brauchen wir nicht zwangsläufig ein allgemeines Tempolimit, weil auch auf Autobahnen die Geschwindigkeit schon jetzt limitiert ist, wo diese Einschränkungen erforderlich sind. Das heißt im Umkehrschluss: Man sollte dort freie Fahrt haben, wo es möglich ist.
Sind Radfahrer eigentlich umgänglicher im Verhalten als Autofahrer? Chiellino: Radfahrer haben ein wenig andere Voraussetzungen. Die sind nicht mehr ganz so anonym unterwegs und haben auch keinen Schutzpanzer um sich herum. Das bedeutet: Wenn die mal emotionaler werden, müssen sie mit einer unmittelbaren Gegenreaktion rechnen und kommen nicht so schnell aus Situationen wieder raus. In der Opferrolle gegenüber Autofahrern ist es einfacher auf den Autofahrer zu schimpfen, wenn der einem die Vorfahrt genommen hat, da die Kräfteverhältnisse ungleich verteilt sind.
In vielen Städten steigt die Zahl der Radunfälle. Liegt das nur am zunehmenden Zweiradverkehr?
Chiellino: Der Radverkehr nimmt zu, insofern ist es kein Wunder, dass auch die Unfallzahlen zunehmen. Wir haben beim Radverkehr natürlich auch etwas, was beim Auto nicht so häufig der Fall ist: Alleinunfälle wie Stürze, die da noch dazukommen. Durch die E-Bikes haben wir zudem das Phänomen, dass mehr Ältere aufs Rad umsteigen, was auch das Verletzungsrisiko erhöht.
Über die neuen E-Scooter wird viel gesprochen. Spielen die beim Thema Rücksicht auch eine Rolle?
Chiellino: Das würde sich sicher auch lohnen, mal genauer anzusehen. Was man wahrnimmt: Die E-Scooter werden hauptsächlich an touristischen Hotspots verliehen. Bei ihnen steht wohl der Spaß im Vordergrund. Die Benutzer haben da eine andere Grundmotivation als Autooder Radfahrer, die oft unter Termindruck streng von A nach B wollen oder müssen. So könnte man sagen: Die E-Scooter-Fahrer sind etwas sorgloser unterwegs als manch anderer Verkehrsteilnehmer. Das wiederum kann schnell umschlagen in rücksichtsloses Verhalten. Das macht die Sache also nicht besser, aber das Motiv der E-Scooter-Fahrer ist ein anderes.
Was kann man tun, damit es im Straßenverkehr friedlicher zugeht? Chiellino: Im Prinzip müsste jeder bei sich selbst ansetzen und mit mehr Gelassenheit ins Auto einsteigen. Wir müssten uns auch dahingehend davon befreien, dass wir im Straßenverkehr die Zeit wieder aufholen wollen, die uns woanders verloren gegangen ist. Das Gegen-die Uhr-Fahren ist einer der Hauptstressoren. Da führt jedes kleine Problem zum Wutausbruch. Und Autofahrer sollten sich im Klaren sein, dass es positiv sein kann, den anderen mal vorzulassen, weil man selbst das ja auch mal genießen möchte.
Eine Forderung ist: höhere Strafen. Brauchen wir Verschärfungen, damit sich die Autofahrer zügeln lassen? Chiellino: Zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bedarf es der Prävention und Repression. Entscheidend bei den Sanktionen ist nicht die Höhe des Bußgelds, sondern das Risiko, bei einem Fehlverhalten auch bestraft zu werden. Insofern sollte an Unfallschwerpunkten eher die Kontrolldichte erhöht werden, als zur Abschreckung das Bußgeld anzuheben.