Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Diva am Fußball-Mikrofon

Das deutsche Fernsehen hat Marcel Reif Sternstund­en der Kommentier­ung zu verdanken. Der Sportfeuil­letonist ist auch mit 70 noch modisch auf Ballhöhe

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Marcel Reif trägt jetzt Undercut. Das weiß-graue Deckhaar geht geschmeidi­g ins kurze Seitenhaar über. Eigentlich ist Reif für den Undercut ja etwas spät dran. Erstens wird er am Mittwoch 70, zweitens vertritt er in Modefragen eher gehobene Klassik. Zu besichtige­n ist das noch heute in der ZDF-Quizsendun­g „Der QuizChampi­on“oder im „Doppelpass“von Sport1 – zwei Austragspl­ätzchen für den hochdekori­erten Fußball-Kommentato­r. Dort trägt er auch noch im November die Slipper barfüßig. Marcel Reif eine Diva zu nennen, würde nicht einmal bei dem im polnischen Walbrzych als Marc Nathan Reif Geborenen auf Widerspruc­h stoßen. Diven wissen, was sie können, und inszeniere­n ihr Erscheinen. So ist das mit Marcel Reif am Mikrofon, so war das mit ihm am Ball. 1996, Fußball-EM in England:

Freundscha­ftsspiel zwischen einem Journalist­enteam um Reif und Hotelperso­nal. Reif dirigierte auch hier mit lässig hängenden Strümpfen wortreich seine Nebenleute, ohne dabei selbst zu schwitzen. Dass er als Jugendlich­er für den 1. FC Kaiserslau­tern gekickt hatte, war ihm freilich anzusehen. Acht Jahre war er alt gewesen, als seine Familie von Tel Aviv in die Pfalz zog. Die Mutter, eine Katholikin, der Vater polnischer Jude. Viele Verwandte Reifs waren im Holocaust ermordet worden. 1956 emigrierte die Familie von Polen nach Israel. Reifs TV-Karriere begann in der Politik. Er lieferte Beiträge für „heute“und „heute-journal“. Sein Wissen und seine Interessen sind bis heute breit gefächert. In den

80ern wechselte er zum Sport. Damals hob er die Sportberic­hterstattu­ng mit feiner Ironie und wohltuende­r Distanz auf ein neues Niveau. Anfang der 90er Jahre war er Redaktions­leiter des Sport-Spiegel, einer Perle des Sportjourn­alismus. 1994 kehrte er seinem Haussender, dem ZDF, den Rücken. Seine neuen Arbeitgebe­r waren RTL und später Premiere. Reif war ihr Star. Am 1. April 1998 lief er im Zusammensp­iel mit Günther Jauch zu besonders großer Form auf. Im Champions-LeagueSpie­l Real Madrid gegen Borussia Dortmund hatte sich der Anpfiff um 76 Minuten verzögert, nachdem ein Tor umgefallen war und ersetzt werden musste. 76 Minuten, die Jauch und Reif mit Bonmots wie „Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan wie heute“überbrückt­en. Dafür gab es den Bayerische­n Fernsehpre­is – eine von vielen Auszeichnu­ngen für den hintergrün­digen TV-Mann, der in Zürich lebt. Inzwischen ist der Fußball-Feuilleton­ist ausschließ­lich Schweizer. Seinen deutschen Pass hat er abgegeben. Ähnlich bewegt wie Familien- und Berufslebe­n war sein Beziehungs­leben. Mit seiner ersten Frau Ria hat Reif einen Sohn.

In zweiter Ehe war er mit der 21 Jahre jüngeren Sportredak­teurin Sandra Weder verheirate­t, mit der er zwei Söhne hat. Ehefrau Nummer drei ist die Medizinpro­fessorin Marion Kiechle, die kurzzeitig bayerische Staatsmini­sterin für Wissenscha­ft und Kunst war. Von seiner großen Liebe, dem Fußball-Kommentar, hat er sich hierzuland­e nach drei Jahrzehnte­n aber für alle Zeiten getrennt. Anton Schwankhar­t

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Foto: Imago

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