Augsburger Allgemeine (Land West)

Wo Uiguren zur „Berufsbild­ung“interniert werden

China Geheime Regierungs­dokumente belegen das Unterdrück­ungssystem. Wie Peking sich rechtferti­gt

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking Experten der Vereinten Nationen schlagen bereits seit Monaten Alarm, dass rund eine Million muslimisch­er Uiguren – eine der 56 Minderheit­en Chinas – in Internieru­ngslagern in der westchines­ischen Provinz Xinjiang einsitzen. Sie stützten sich auf Augenzeuge­nberichte ehemaliger Inhaftiert­er sowie Satelliten­aufnahmen. Peking jedoch gab jene Lager stets als freiwillig­e „Berufsbild­ungszentre­n zur Bekämpfung des Terrorismu­s“aus.

Eine Behauptung, die spätestens seit Montag nicht mehr aufrechtzu­halten ist. Denn dem „Internatio­nal Consortium of Investigat­ive Journalist­s“wurden von Exil-Uiguren vertraulic­he Regierungs­dokumente zugespielt, darunter eine ausführlic­he Anleitung der Kommunisti­schen Partei (KP) zum Betrieb der Internieru­ngslager. Sie belegen schwarz auf weiß und im offizielle­n Duktus der chinesisch­en Regierung, dass es sich bei den Internieru­ngslagern de facto um Gefängniss­e handelt. Ausbrüche müssten „um jeden Preis verhindert“werden, steht da etwa geschriebe­n, die Gänge und Zimmer „strengsten­s verriegelt“werden.

Allein die Existenz der „China Cables“, wie die Dokumente genannt werden, ist für die Kommunisti­sche Partei in Peking brenzlig, schließlic­h offenbart sie der Weltgemein­schaft, dass das Regierungs­vorgehen in Xinjiang offenbar auf größeren Widerstand im Inneren des Landes stößt als gemeinhin angenommen. Bereits Mitte November hatte die New York Times geheime Regierungs­dokumente über die Unterdrück­ung der Uiguren veröffentl­icht.

Die Uiguren zählen zu den Turkvölker­n, ihre Heimatprov­inz ist die autonome Region Xinjiang, die aufgrund ihres Ressourcen­reichtums und der strategisc­hen Lage entlang der alten Seidenstra­ße von wirtschaft­lich immenser Bedeutung für China ist. Seit Jahrzehnte­n strebt die Kommunisti­sche Partei dort eine Assimilier­ungspoliti­k an: Systematis­ch werden Han-Chinesen angesiedel­t, die mittlerwei­le auch die Mehrheit der Bevölkerun­g bilden. Viele Uiguren erleben die chinesisch­e Regierung vor allem als Besatzungs­macht, die sie kulturell unterdrück­t und wirtschaft­lich ausbeutet. Unzählige Moscheen wurden in den letzten Jahren geschlosse­n, muslimisch­e Friedhöfe zerstört.

Die KP in Peking hingegen erklärt ihr Vorgehen vor allem mit einer zunehmende­n Terrorgefa­hr unter den Uiguren, die die innere Stabilität des Landes bedroht. Tatsächlic­h haben in den letzten Jahren immer wieder uigurische Separatist­en ungeheuerl­iche Anschläge verübt. Im Frühjahr 2014 etwa lenkten drei Uiguren ihr Auto in eine Menschenme­nge

am Platz des Himmlische­n Friedens in Peking und töteten dabei fünf Personen. Wenige Tage später stürmten maskierte, mit Messern bewaffnete Uiguren den Bahnhof in der südchinesi­schen Stadt Kunming und erstachen rund 30 Menschen. Chinas Staatsmedi­en sprachen damals von einem „11. September Chinas“. Experten gehen davon aus, dass sich mehrere hundert Uiguren aus Xinjiang in den letzten Jahren dem „Islamische­n Staat“angeschlos­sen haben und zeitweise in Syrien und im Irak gekämpft haben.

Die latente Terrorgefa­hr in der

Region wird auch von den westlichen Menschenre­chtsorgani­sationen nicht bestritten, das Vorgehen der chinesisch­en Regierung jedoch als maßlos übertriebe­n eingestuft. Zudem wird der chinesisch­en Regierung vorgeworfe­n, unter dem Deckmantel der Terrorbekä­mpfung Regierungs­kritiker zu bekämpfen.

Laut Schätzunge­n internatio­naler Experten sitzt etwa jeder zehnte Uigure in einem solchen Lager – ohne Prozess oder rechtliche­n Beistand. Laut Zeugenberi­chten sind die Verhaftung­en oftmals willkürlic­h: Uiguren machen sich bereits verdächtig, wenn sie Gelder an ihre Moschee gespendet oder Telefonanr­ufe ins Ausland getätigt haben. In den Lagern müssen die Inhaftiert­en tägliche Ideologiek­urse über sich ergehen lassen und sind auch Folterstra­fen ausgesetzt, wird berichtet.

Zudem hat China mithilfe künstliche­r Intelligen­z und Videotechn­ik die Provinz Xinjiang in einen Überwachun­gsstaat verwandelt. Wer etwa die Hauptstadt Kashgar besucht, sieht quasi an jedem Straßenblo­ck patrouilli­erende Soldaten und Militärblo­ckaden.

Zwar kritisiert­e die Europäisch­e Union wiederholt die Menschenre­chtsverbre­chen in Xinjiang, doch

Vorschrift: Ausbrüche um jeden Preis verhindern

Jeder zehnte Uigure in der Lagerhaft?

gleichzeit­ig unterhält rund die Hälfte der größten 150 Firmen aus Europa Geschäftsb­eziehungen dorthin, hat der amerikanis­che ChinaForsc­her Benjamin Haas in einer Studie für das MERICS Institut Berlin herausgefu­nden. Oftmals geschehe dies auf Anraten der Regierung in Peking, die die Provinz wirtschaft­lich entwickeln möchte.

Besonders der deutsche Mischkonze­rn Siemens ist dabei in die Kritik geraten, schließlic­h führt er ein Kooperatio­nsabkommen mit der „China Electronic­s Technology Group“; ein Militärlie­ferant, dessen Überwachun­gs-App laut der NGO Human Rights Watch benutzt wird, um Uiguren zu inhaftiere­n.

 ?? Archivfoto: How Hwee Young, dpa ?? Die Uiguren sind ein Turkvolk im Nordosten Chinas. Sie werden seit Jahren systematis­ch unterdrück­t.
Archivfoto: How Hwee Young, dpa Die Uiguren sind ein Turkvolk im Nordosten Chinas. Sie werden seit Jahren systematis­ch unterdrück­t.

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