Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein Befreiungsschlag in Versen
Bücher Lyrische Prosa ist ein Trend in der Jugendliteratur. Jason Reynolds, Sarah Crossan und Elizabeth Acevedo nehmen dafür Anleihen bei Rap und Poetry-Slams. Trotz kurzer Strophen ist die Lektüre aber nicht leicht
Im achten Stock eines Hochhauses steigt Will in den Fahrstuhl, um nach unten zu fahren. Im Hosenbund hat er eine Pistole. Er will den Tod seines Bruders Shawn rächen, der beim Einkaufen erstochen wurde – von einem, der damit den Tod eines anderen vergelten wollte. Die Spirale der Gewalt ist im Jugendroman „Long Way Down“des USAutors Jason Reynolds nicht aufzuhalten in einem Milieu, in dem es drei Regeln gibt: nicht weinen, niemanden verpfeifen und den töten, der jemanden tötete, den man liebt.
Etage für Etage auf dem Weg nach unten steigt jemand in den Fahrstuhl ein: Shauns Freund Buck, Wills Sandkasten-Freundin Danni, der Onkel, der Vater, Bucks Mörder Frick und Shawn selbst. Alle erzählen sie ihre Geschichte, alle sind sie tot, ums Leben gekommen durch Gewalt, die immer neue Gewalt erzeugt. Manchmal aber auch unbeabsichtigt – wie Danni. „Ich erzählte ihr dass ich/ mich erinnerte wie ich sie/ die ganze Zeit anstarrte./ Ihre aufgerissenen Augen/ das Strahlen erloschen./ Der Mund geöffnet. Kaugummi/ und Blut.“Was, wenn auch Will daneben schießt und einen Unschuldigen trifft?
Verzweiflung, Erschöpfung und Überforderung klingen in Wills Worten durch. Das ist eindringlich vor allem auch deshalb, weil Jason Reynolds diesem Totentanz einen eigenen Rhythmus gibt: „Long Way Down“ist ein Langgedicht, Prosa in Versen ohne Reim. Kurze Sätze, die zu Absätzen zusammengestellt sind, manchmal ohne gliedernde Satzzeichen, oft in einer Typografie, die Leerstellen schafft. Dadurch entstehen Freiräume, die das Gedankenkarussell der Leser in Gang setzen. Oft steht nur ein Satz auf der Seite, wie auf der letzten in großen Lettern die Frage „Kommst Du?“Der tote Shawn richtet sie an seinen Bruder, als sie im Erdgeschoss angekommen sind. Die Antwort, wie sich Will entscheiden wird, muss der Leser selbst suchen ...
Lyrische Prosa wie Reynolds’ Roman verbindet Lyrik mit epischem Erzählen und ist derzeit ein Trend in der Jugendliteratur. Im letzten Jahr wurde Steven Herreck für „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis prämiert. Die Geschichte einer Jugend unter schweren Umständen, in der trotzdem Hoffnung, Freude und Träume den Ton bestimmen, zeichnet sich laut Jurybegründung dadurch aus, dass „die gebrochenen Zeilen den vorgeben für das Vielfältige, für das Große und Kleine, was das Leben ausmacht“. Diese Vielseitigkeit zum einen, zum anderen Verdichtung, die die Ereignisse intensiviert und den Erzähler nahe heranrückt an den Leser, machen die gebundene Prosa zum speziellen Lektüreerlebnis. Dass dies in der Jugendliteratur Wirkung zeigt, hat auch damit zu tun, dass die lyrische Prosa mit ihrem Kurzstil bei der Chat-Generation einen Nerv trifft. Romane in Versform sind pointiert, eingängig, bildstark, poetisch und greifen damit auch Phänomene der Pop-Kultur wie Rap und PoetrySlam auf. Autoren wie Jason Reynolds, Jahrgang 1983, sind davon geprägt. Rap-Songs hätten sein Interesse für Literatur geweckt, erzählt er. „Die Bücher, die es gab, interessierten mich nicht, darin konnte ich mich nicht wiederfinden.“
Jungen Menschen, die seine Romane lesen, solle das nicht passieren.
Bücher, die nahe an die Lebenswirklichkeit Jugendlicher kommen, will dezidiert auch Elizabeth Acevedo schreiben. Die dominikanischstämmige New Yorkerin ist eine gefeierte Poetry-Slammerin. In ihrem Debüt-Roman „Poet X“gibt sie der 16-jährigen Xiomara eine Stimme, die mit dem Schreiben von Gedichten zum Befreiungsschlag ansetzt: von der Fremdheit des erwachsen werdenden Körpers, von der tiefreligiösen Mutter, von sozialer Kontrolle, von den sexistischen Belästigungen der Männer. Wenn Xiomara deshalb wütend ist, „dann nehme ich mein Notizbuch/ und schreibe und schreibe und schreibe/ all jene Sachen, die ich so gerne gesagt hätte./ Forme Gedichte aus einschneidenden Gefühlen, die sich anfühlen, als könnten sie/ mich von innen heRhythmus raus/ öffnen.“Sprachmächtig, mit faszinierenden Bildern und dem drängenden Ton der Heranwachsenden lässt Acevedo Xiomara ihre Lage und Ansprüche formulieren und entwickelt einen erzählerischen Sog.
Längst zum Markenzeichen geworden ist die Form des Langgedichtes für Sarah Crossan. Mit Büchern wie „Die Sprache des Wassers“oder „Eins“war die Britin in Deutschland erfolgreich. Wie sie geht auch ihr letzter Roman „Wer ist Edward Moon“unter die Haut. Joe erzählt von seinem Bruder, der seit zehn Jahren im Todestrakt eines Gefängnisses sitzt und nun den Termin für die Hinrichtung bekommen hat. Im Bangen zwischen Leben und Tod offenbaren sich nicht nur die Fragen nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit, sondern auch die Kraft der Familie, sei sie auch noch so zerrüttet wie in diesem Fall. Auch in diesem Buch findet sich auf vielen Seiten mehr Weißraum als Text. Zunächst verleitet das zum schnellen Überfliegen. Eine leichte Lektüre ist es dennoch nicht – nicht nur wegen des schweren Themas. Denn die Lücken, die die Autorin lässt, muss der Leser selbst füllen.
» Jason Reynolds: Long Way Down. Aus d. Englischen von Petra Bös; dtv, 315 S., 14,95 Euro – ab 14.
» Steven Herrick: Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen. Aus d. Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn; Thienemann, 240 S., 15 Euro – ab 14.
» Elizabeth Acevedo: Poet X. Aus d. Englischen von Leticia Wahl; Rowohlt, 352 S., 15 Euro – ab 14 Jahre
» Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon? Aus d. Eng. von Cordula Setsman; Mixtvision, 351 S., 17 Euro – ab 14