Augsburger Allgemeine (Land West)
Schau mir in die Augen, Fremder
Experiment Sie kennen sich nicht, sprechen nicht miteinander und blicken sich minutenlang tief in die Augen. Klingt seltsam? Ist es anfangs auch, berichtet unsere Autorin nach ihrem ersten Besuch eines Blickkontakt-Treffens
Würzburg Ein kurzer Blick sagt manchmal mehr als tausend Worte. Kann ein langer Blick also eine ganze Lebensgeschichte erzählen? Das frage ich mich, als ich mit Max Längsfeld telefoniere. Er hat „Eye Contact Würzburg“gegründet, eine lose Gruppe, die sich seit ein paar Wochen in einem Würzburger Fotostudio trifft. Jeder kann kommen. Das Konzept ist einfach, aber ungewöhnlich: Zwei Fremde schauen sich wortlos in die Augen – minutenlang, ununterbrochen. „Wenn man dann das Schweigen bricht, fühlt es sich oft an, als würde man mit einem alten Bekannten reden“, beschreibt Längsfeld. Er organisiert die Treffen – Teilnehmer zahlen vier Euro – in unregelmäßigen Abständen über die Internetplattform meetup.com.
Videos von solchen Experimenten gibt es im Internet viele, sie laufen ungefähr so ab: Zufallsbekanntschaften in der Fußgängerzone schauen sich an, bis beiden Tränen der Rührung in den Augen stehen. Von Gefühlen überwältigt fallen sich die Teilnehmer um den Hals.
An der Bushaltestelle oder im Supermarkt streifen sich Blicke meist nur zufällig – würde mich dort jemand minutenlang stumm anstarren, würde ich wohl schnell das Weite suchen. An einem Freitagabend treffe ich mich aber mit sieben anderen Menschen, um genau das zu tun – minutenlang einen Unbekannten anschauen und dabei schweigen. Warum? Der Erfahrung wegen, sagen die Teilnehmer.
Die Atmosphäre in dem Fotostudio ist künstlich hell. Alles strahlt in Weiß, selbst die wackeligen Plastikstühle, auf denen wir Platz nehmen. Die Paarungen haben sich zufällig ergeben. Als ein Gong erklingt, blicke ich auf und sehe in die Augen einer Frau, etwa in meinem Alter, Mitte bis Ende 20. Sie hat ein freundliches Gesicht, dunkle Augen und lächelt mich an. Sie ist mir direkt sympathisch, ich lächle zurück so gut ich kann. Wir sitzen aufrecht auf unseren Stühlen, zwischen ihren und meinen Knien sind etwa 50 Zentimeter Platz. Ihre Augen kann ich auf diese Distanz gar nicht im Detail erkennen, das Deckenlicht spiegelt sich darin. Mir fällt es schwer, still zu sitzen. Ich habe plötzlich das Gefühl, dass ich schneller atme und mehr blinzle, mir wird warm. Ganz wohl fühle ich mich nicht.
Diese Reaktion ist nicht ungewöhnlich, erklärt mir später Dr. Anne Böckler-Raettig, Juniorprofessorin für Psychologie an der Uni Würzburg: „Blicke wirken aktivierend auf uns und können eine richtige körperliche Erregung auslösen, zum Beispiel Herzklopfen oder schwitzende Hände.“Im Alltag können wir selbst entscheiden, wie nah wir Menschen im Gespräch körperlich kommen, ob wir uns anfassen, und eben, wie lange wir Blickkontakt halten. „Wir versuchen immer, diese verschiedenen Faktoren so auszubalancieren, dass die Situation für uns angenehm ist“, sagt Böckler-Raettig. Das passiere zum Beispiel, wenn wir in einen Aufzug steigen: „Vor dem Fahrstuhl haben wir uns mit unserem Gesprächspartner noch angeregt unterhalten, uns regelmäßig in die Augen geschaut“, beschreibt die Psychologin. „Im engen Aufzug ebbt das Gespräch ab und wir vermeiden Blickkontakt. Die körperliche Nähe nimmt plötzlich und mehr zu, als uns lieb ist. Deswegen reduzieren wir die Nähe auf anderen Ebenen.“
An diesem Abend kann ich nichts regulieren: Die Position des Stuhls ist vorgegeben, reden darf ich nicht, und gleichzeitig liegt der freundliche, aber doch durchdringende Blick der anderen Teilnehmerin auf mir – und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten muss. Endlich erklingt der erlösende Gong. Wir lehnen uns beide sofort nach vorne, um uns im Gespräch näher zu sein. Jetzt erst habe ich das Gefühl, ihre Augen wirklich gut sehen zu können. Der Blickkontakt fühlt sich jetzt intensiver an. Die braunen Augen, in die ich gestarrt habe, gehören Shweta. Sie ist Inderin, lebt schon länger in Deutschland und arbeitet in Würzburg als Datenanalystin. Auch für sie ist es das erste Blickkontakt-Treffen. Wir unterhalten uns ein paar Minuten lang gut, aber sie bleibt eine Fremde für mich. Die intensive Erfahrung, die mir angekündigt wurde, war dieser erste Blickkontakt nicht.
Der Gong erklingt und ich blicke in die Augen eines Mannes. Meine Anspannung hat etwas nachgelassen, ich konzentriere mich weniger auf das Atmen. Stattdessen studiere ich mein Gegenüber: Wer ist dieser Mensch wohl? Ich schätze ihn auf Anfang 30, er ist groß, hat einen auffälligen Bart, ist gut gekleidet und macht einen sehr selbstbewussten Eindruck. In seinem Gesicht erkenne ich keine Emotion. Aber er blinzelt oft, vielleicht ein Zeichen, dass er auch aufgeregt ist? Als wir uns unterhalten, bin ich überrascht: Mein Gegenüber wirkt im Gespräch viel schüchterner, als ich erwartet hätte. Für mich ist es der erste AhaMoment an diesem Abend.
Blickkontakt Nummer drei. Mir gegenüber sitzt wieder ein Mann. Sein Mund ist entspannt, mit seinen Augen lächelt er. Er scheint in sich zu ruhen, und das hilft auch mir, ruhiger zu atmen. Ich habe das Gefühl, wir synchronisieren uns: Wir atmen im selben Rhythmus, wenn er blinzelt, muss ich blinzeln. Bilde ich mir das ein? Nein, erklärt mir später Anne Böckler-Raettig. „Menschen neigen dazu, emotionale und körperliche Regungen von anderen zu spiegeln.“
Neben mir sitzt Shweta, ich sehe sie nicht, aber höre sie: Sie kichert leise. Ich muss grinsen und an das Kinderspiel denken – wer zuerst lacht, verliert. Warum wir bei langem Blickkontakt manchmal lachen müssen, ist wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. Böckler-Raettig hat hier eine Vermutung: „Lachen ist ein guter Weg, um in einer so strengen, künstlichen Situation die Spannung zu lösen.“
Ganz neutral ist der Blick von Max Längsfeld, der mir in der letzten Runde gegenüber sitzt. Sein Rücken ist kerzengerade, er atmet flach und kontrolliert, blinzelt nur ganz selten. Ich fühle mich unwohl. Er meditiert, da bin ich mir sicher, und das versuche ich auch. Ich will an nichts denken und einfach auf die zwei dunklen Punkte starren, die Max’ Augen aus dieser Entfernung für mich sind. Es gelingt mir nicht.
Ein letztes Mal ertönt der Gong. Jeweils sieben Minuten lang haben wir uns angeschaut, das verrät Max endlich. Wir tauschen nun in großer Runde unsere Erfahrungen aus: Viele beschreiben die gleiche Nervosität, die ich gespürt habe. Einige haben sich auf ihr Gegenüber konzentriert, andere sind bewusst aus der Situation herausgegangen und haben meditiert, das stand allen frei.
Am Ende dieses Abends bin ich ein bisschen enttäuscht: Ich habe keine tiefe Bindung zu einem Fremden aufgebaut, hatte keine Tränen in den Augen und nicht das Bedürfnis, jemanden in den Arm zu nehmen. Ich habe nicht einmal das Gefühl, wirklich Blickkontakt gehabt zu haben – weil die Gesichter meiner Partner so weit von meinem entfernt waren. Eine spannende Erfahrung war der Abend dennoch.