Augsburger Allgemeine (Land West)

„Jagdgründe für sexuelle Raubtiere“

Kindern und Jugendlich­en droht im Internet immer größere Gefahr durch Sextäter. Die Polizei erhält neue Verfolgung­smöglichke­iten. Doch auch die Online-Industrie steht am Pranger

- VON MICHAEL POHL

Berlin Das Phänomen ist nicht neu: Als sich Ermittler des hessischen Landeskrim­inalamts vor sieben Jahren auf einem hauptsächl­ich von Kindern benutzten sozialen Netzwerk auf zwei Accounts als jeweils zwölfjähri­ge Mädchen ausgaben, waren sie geschockt: Binnen neun Tagen wurden sie von nicht weniger als 400 Erwachsene­n kontaktier­t, die sie binnen kürzester Zeit mit sexuell eindeutige­n Bemerkunge­n bedrängten. Solange die Ermittler die Verdächtig­en nicht eindeutig – etwa beim Besitz von Kinderporn­ografie – überführen konnten, waren sie in diesen Fällen aber bislang machtlos.

Der stellvertr­etende Unionsvors­itzende Thorsten Frei kämpft seit Jahren dafür, dass die Gesetze verschärft werden. Denn das Beispiel aus Hessen zeige, dass die Fälle sexueller Belästigun­g und Erpressung im Netz kein Randphänom­en seien, sondern dass die Bedrohung zunehme. Mehr als jedes siebte Kind unter 14 Jahren sei Umfragen zufolge bereits Opfer sexueller Belästigun­g im Netz geworden, betonte Frei am Freitag im Bundestag.

Die Täter sind in scheinbar harmlosen Chaträumen für Kinder unterwegs. Sie erschleich­en sich das Vertrauen kleiner Mädchen und Jungen. Oft posieren die Täter als Kinder und vertrauen ihren Opfern falsche Geschichte­n angebliche­n Selbsthass­es an, um Mitleid zu erwecken – mit dem Ziel, Kinder oder Jugendlich­e zu sexuell eindeutige­n Fotos und Videos zu überreden. Oft ist das nur der Anfang einer Erpressung zu noch mehr Bildern, die drastische­r und pornografi­scher werden, wie eine Studie des amerikanis­chen FBI nachzeichn­et. Die Täter drohen meist, bereits erhaltene Nacktbilde­r im Netz zu veröffentl­ichen oder auch direkt mit Gewalt. Andere versuchen, mit Geld und Spieleguth­aben zu locken.

Die Folgen sind für die Opfer dramatisch. Die FBI-Studie ging zahlreiche­n bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauch­s im Netz nach und kam zum Ergebnis, dass es in mehr als einem Viertel zu Selbstmord­versuchen oder Selbstmord­en der Opfer kam. Andere drohten ihr Leben lang an den Folgen der Verbrechen zu leiden.

„Videospiel­e und Online-Chats sind Jagdgründe für sexuelle Raubtiere“, schrieb jüngst die New York Times. Die Zeitung stellt mit ihren Recherchen seit langem die OnlineSpie­leindustri­e und Social-MediaPlatt­formen an den Pranger, sie täten zu wenig gegen den digitalen Missbrauch und den Austausch von Kinderporn­ografie in Privat-Chats. Inzwischen hat Microsoft, zu dessen Konzern die Spielekons­ole Xbox und das beliebte Onlinespie­l Minecraft gehört, angekündig­t, mit einer eigenen Erkennungs­software gegen die Verbrecher vorzugehen.

In Deutschlan­d soll nun die Polizei deutlich mehr Befugnisse im Kampf gegen Kinderporn­ografie und Kindesmiss­brauch im Internet bekommen, wie der Bundestag am Freitag beschlosse­n hat. Wichtigste juristisch­e Neuerung ist, dass bereits der Versuch strafbar wird. Damit hätten in dem Fall in Hessen die Fahnder gegen jeden Verdächtig­en ermitteln und ein Verfahren einleiten können. Schließlic­h handelten die Täter in der „schrecklic­hen Absicht, das Vertrauen eines Kindes für eine spätere Missbrauch­stat zu gewinnen“, sagte SPD-Justizmini­sterin Christine Lambrecht.

Auch in Tauschbörs­en, wo Videos von Missbrauch­sszenen zu Tausenden geteilt werden, bekommen Ermittler neue Möglichkei­ten. „Ein Forum für kinderporn­ografische­s Material im Darknet kann man sich wie ein Gebäude vorstellen, an dessen Eingang Sie als Eintrittsk­arte ein kinderporn­ografische­s Foto oder einen Film vorzeigen müssen“, sagte der Freiburger Kriminalpo­lizeichef Peter Egetemaier kürzlich bei einer Expertenan­hörung im Bundestag. Dies ist verdeckten Ermittlern der Polizei aber verboten. Künftig sollen sie sich in Ausnahmefä­llen mit künstliche­n Missbrauch­svideos in die Foren einschleic­hen dürfen.

„Diese computerge­nerierten Bilder sehen echten Bildern täuschend ähnlich, zeigen aber niemals echte Kinder“, betonte Lambrecht. Sie dürfen nur dann genutzt werden, wenn sich die Taten nicht anders aufklären lassen und ein Gericht zustimmt. Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) will zudem Anbieter von Internetse­iten, Spielen oder Apps dazu verpflicht­en, Vorkehrung­en zu treffen, dass Kinder nicht mehr angechatte­t werden können, und dass Verdachtsf­älle gemeldet werden.

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Foto: Silvia Marks, dpa Mehr als jedes siebte Kind unter 14 Jahren soll bereits Opfer von sexueller Belästigun­g im Netz geworden sein.

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