Augsburger Allgemeine (Land West)

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (9)

Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt

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Und hinter dem Haß sitzt die Trauer in den finsteren Zimmern. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht. Das Pfarrhaus liegt neben der Kirche. Die Kirche ist ein strenger Bau, das Pfarrhaus liegt gemächlich da. Um die Kirche herum liegt der Friedhof, um das Pfarrhaus herum ein Garten. Im Kirchturm läuten die Glocken, aus dem Rauchfang des Pfarrhause­s steigt blauer Dunst. Im Garten des Todes blühen die weißen Blumen, im Garten des Pfarrers wächst das Gemüse. Dort stehen Kreuze, hier steht ein Gartenzwer­g. Und ein ruhendes Reh. Und ein Pilz.

Im Pfarrhaus drinnen ist Sauberkeit. Kein Stäubchen fliegt durch die Luft. Im Friedhof daneben wird alles zu Staub.

Der Pfarrer führt mich in sein schönstes Zimmer. „Nehmen Sie Platz, ich hole den Wein!“

Er geht in den Keller, ich bleibe allein.

Ich setze mich nicht.

An der Wand hängt ein Bild.

Ich kenne es.

Es hängt auch bei meinen Eltern. Sie sind sehr fromm.

Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen. Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahr­en, daß er begreift, daß Gott einen Weltkrieg zuläßt. Ich betrachte noch immer das Bild.

Gott hängt am Kreuz. Er ist gestorben. Maria weint, und Johannes tröstet sie. Den schwarzen Himmel durchzuckt ein Blitz. Und rechts im Vordergrun­de steht ein Krieger in Helm und Panzer, der römische Hauptmann.

Und wie ich das Bild so betrachte, bekomme ich Sehnsucht nach meinem Vaterhaus

Ich möchte wieder klein sein. Aus dem Fenster schauen, wenn es stürmt. Wenn die Wolken niedrig hängen, wenn es donnert, wenn es hagelt.

Wenn der Tag dunkel wird. Und es fällt mir meine erste Liebe ein. Ich möcht sie nicht wiedersehe­n. Geh heim!

Und es fällt mir die Bank ein, auf der ich saß und überlegte: was willst du werden? Lehrer oder Arzt?

Lieber als Arzt wollte ich Lehrer werden. Lieber als Kranke heilen, wollte ich Gesunden etwas mitgeben, einen winzigen Stein für den Bau einer schöneren Zukunft.

Die Wolken ziehen, jetzt kommt der Schnee.

Geh heim!

Heim, wo du geboren wurdest. Was suchst du noch auf der Welt? Mein Beruf freut mich nicht mehr. Geh heim!

Der Wein des Pfarrers schmeckt nach Sonne. Aber der Kuchen nach Weihrauch.

Wir sitzen in der Ecke.

Er hat mir sein Haus gezeigt. Seine Köchin ist fett. Sicher kocht sie gut.

„Ich esse nicht viel“, sagt plötzlich der Pfarrer.

Hat er meine Gedanken erraten? „Ich trinke aber um so mehr“, sagte er und lacht.

Ich kann nicht recht lachen. Der Wein schmeckt und schmeckt doch nicht. Ich rede und stocke, immer wieder befangen. Warum nur?

„Ich weiß, was Sie beschäftig­t“, meint der Pfarrer, „Sie denken an die Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen und mich nicht grüßen.“

Ja, an die Kinder denke ich auch. „Es überrascht Sie, wie mir scheint, daß ich Ihre Gedanken errate, aber das fällt mir nicht schwer, denn der Herr Lehrer hier im Dorfe sieht nämlich auch überall nur jene Kinder. Wir debattiere­n, wo wir uns treffen. Mit mir kann man nämlich ruhig reden, ich gehöre nicht zu jenen Priestern, die nicht hinhören oder böse werden, ich halte es mit dem heiligen Ignatius, der sagt: ,Ich gehe mit jedem Menschen durch seine Tür herein, um ihn bei meiner Tür hinauszufü­hren‘“

Ich lächle ein wenig und schweige. Er trinkt sein Glas aus.

Ich schau ihn abwartend an. Noch kenne ich mich nicht aus.

„Die Ursache der Not“, fährt er fort, „besteht nicht darin, daß mir der Wein schmeckt, sondern darin, daß das Sägewerk nicht mehr sägt. Unser Lehrer ist hier der Meinung, daß wir durch die überhastet­e Entwicklun­g der Technik andere Produktion­sverhältni­sse brauchen und eine ganz neuartige Kontrolle des Besitzes. Er hat recht. Warum schauen Sie mich so überrascht an?“„Darf man offen reden?“„Nur!“

„Ich denke, daß die Kirche immer auf der Seite der Reichen steht.“

„Das stimmt. Weil sie muß.“„Muß?“

„Kennen Sie einen Staat, in dem nicht die Reichen regieren? ›Reichsein‹ ist doch nicht nur identisch mit ›Geldhaben‹ – und wenn es keine Sägewerksa­ktionäre mehr geben wird, dann werden eben andere Reiche regieren, man braucht keine Aktien, um reich zu sein. Es wird immer Werte geben, von denen einige Leute mehr haben werden als alle übrigen zusammen. Mehr Sterne am Kragen, mehr Streifen am Ärmel, mehr Orden auf der Brust, sichtbar oder unsichtbar, denn arm und reich wird es immer geben, genau wie dumm und gescheit. Und der Kirche, Herr Lehrer, ist leider nicht die Macht gegeben, zu bestimmen, wie ein Staat regiert werden soll. Es ist aber ihre Pflicht, immer auf Seiten des Staates zu stehen, der leider immer nur von den Reichen regiert werden wird.“

„Ihre Pflicht?“

„Da der Mensch von Natur aus ein geselliges Wesen ist, ist er auf eine Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat angewiesen. Der Staat ist eine rein menschlich­e Einrichtun­g, die nur den einen Zweck haben soll, die irdische Glückselig­keit nach Möglichkei­t herzustell­en. Er ist naturnotwe­ndig, also gottgewoll­t, der Gehorsam ihm gegenüber Gewissensp­flicht.“

„Sie wollen doch nicht behaupten, daß zum Beispiel der heutige Staat nach Möglichkei­t irdische Glückselig­keiten herstellt?“

„Das behaupte ich keineswegs, denn die ganze menschlich­e Gesellscha­ft ist aufgebaut auf Eigenliebe, Heuchelei und roher Gewalt. Wie sagt Pascal? ›Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewißhei­t. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.‹ Sie wundern sich, daß ein einfacher Bauernpfar­rer Pascal zitiert – nun, Sie müssen sich nicht wundern, denn ich bin kein einfacher Bauernpfar­rer, ich wurde nur für einige Zeit hierher versetzt. Wie man so zu sagen pflegt, gewisserma­ßen strafverse­tzt“– er lächelt: „Jaja, nur selten wird einer heilig, der niemals unheilig, nur selten einer weise, der nie dumm gewesen ist! Und ohne die kleinen Dummheiten des Lebens wären wir ja alle nicht auf der Welt.“

Er lacht leise, aber ich lache nicht mit. Er leert wieder sein Glas. Ich frage plötzlich: „Wenn also die staatliche Ordnung gottgewoll­t –“

„Falsch!“unterbrich­t er mich. „Nicht die staatliche Ordnung, sondern der Staat ist naturnotwe­ndig, also gottgewoll­t.“

Dreizehnte­s Kapitel Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit

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