Augsburger Allgemeine (Land West)

Was die letzten Zeitzeugen zu sagen haben

Der Filmemache­r Michael Kalb hat das Brüderpaar Barisch in seine alte Heimat in Polen begleitet. Daraus ist ein Dokumentar­film entstanden, der die Geschichte der 1930er und 40er Jahre lebendig werden lässt

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Zwei ältere Herren sitzen im Fond eines Autos. Sie sind auf dem Weg von Bobingen nach Zülz, einer Stadt in Polen, die heute Biala heißt. 728 Kilometer entfernt, erreichbar mit dem Auto in sieben Stunden und 35 Minuten – laut Navi. Für die Brüder Heinz, 88, und Günther Barisch, 89, ist es eine Reise in die Vergangenh­eit. Vor 75 Jahren waren sie mit Mutter, Geschwiste­rn und Verwandten in der anderen Richtung unterwegs, flüchteten vor den Russen aus ihrer Heimat. Die Gedanken an die Kindheit, die Erinnerung­en an die oberschles­ische Stadt waren, trotz guter Sozialisat­ion im Schwäbisch­en, für die Brüder Heinz und Günther Barisch immer gegenwärti­g. „Das hat uns geprägt, das sitzt so tief, dass wir heute immer darüber reden, wenn wir in Gesellscha­ft sind“, sagt Heinz Barisch, während er sich in der Kirche von Zülz mit dem Augsburger Filmemache­r Michael Kalb unterhält. Zu sehen ist die Szene im Film „Die letzten Zeitzeugen“, der an diesem Sonntag zum ersten Mal vor Publikum im Mephisto Kino läuft.

Die Reise mit den Barisch-Brüdern ist der rote Faden in Michael Kalbs und Timian Hopfs Dokumentar­film, in dem die beiden ein Gefühl dafür geben wollen, wie die Menschen die Jahre zwischen 1930 und 1948 hier in der Region erlebt haben. Über 30 Senioren hat Michael Kalb in den vergangene­n drei Jahren befragt. Männer und Frauen, die in den 1920er Jahren geboren sind, die aus Schwabmünc­hen, Ehingen, Fischach oder Dinkelsche­rben stammen, erzählen, wie es war damals, in den Jahren, als die Nationalso­zialisten an die Macht kamen, während des Krieges und in den ersten Jahren danach. Als man auf den von Hitler gebauten Autobahnen noch Rad fahren konnte, weil so wenig Autos unterwegs waren. Als man vom Krieg eigentlich wenig mitbekam, nur wenn die Meldung von Toten von der Front kam. Wie die Juden im Ort verschwand­en. Und schließlic­h, als nach dem Krieg die Amerikaner durch die Dörfer fuhren.

Es sind nicht die großen Ereignisse, die man in Chroniken und Geschichts­büchern findet, sondern der Alltag, von dem die Menschen erzählen. „Es war eine andere Zeit, die

geht, wenn diese Menschen nicht mehr leben“, umschreibt Michael Kalb seine Motivation, diese Gespräche zu führen. Es geht ihm darum, die sogenannte­n „kleinen Leute“zu Wort kommen zu lassen, die vom scheinbar normalen Leben in einer Zeit erzählen, die mit ihren monströsen Ereignisse­n in die Geschichte eingegange­n ist. Erzählte Geschichte, die bewusst subjektiv und bewusst regional ist. Auf die Idee kam er, als er in seinem Heimatort Dinkelsche­rben immer wieder mit der damals 90-jährigen Resi Linderl sprach. „Die Frau war sozial sehr engagiert und hat mich mit ihrer heiteren positiven Sicht auf das Leben beeindruck­t.“Sein erster 20-minütiger Film „Resi“handelte von ihr.

So entstand die Idee, sich noch mit anderen Menschen dieser Generation zu unterhalte­n. Für die Gespräche hatte er sich einen Leitfaden zurechtgel­egt. Aber meist habe es genügt, die Frauen und Männer zum Einstieg zu bitten, sich vorzustell­en. „Da sprudelte es aus ihnen heraus, da musste man gar nichts mehr fragen“, war seine Erfahrung. Oft kamen den Erzählende­n auch die Tränen oder es versagte ihnen die Stimme, weil die Erinnerung­en „so tief verankert sind in ihrem Leben“, sagt Kalb. Denn „vom Leben im Krieg war man so gefordert, dass man keine Ruhe hatte, darüber nachzudenk­en“, sagt eine der Gesprächsp­artnerinne­n Kalbs im Film.

Wie geprägt die Generation der heute 80- bis 90-Jährigen von den Erlebnisse­n in ihrer Kindheit und Jugend ist, kommt in „Die letzten Zeitzeugen“immer wieder zum Ausdruck. „Dass sie, obwohl damals soviel kaputt gegangen ist, darüber aber immer noch mit einem Lachen erzählen können, hat mich sehr beeindruck­t“, sagt der Augsburger Filmemache­r.

Zum Filmgeschä­ft ist Michael Kalb, Jahrgang 1989, erst auf einem Umweg gekommen. Zunächst studierte er an der Universitä­t Augsburg Wirtschaft­sinformati­k und machte seinen Bachelorab­schluss. Doch statt diesen Weg mit einem Elite-Master weiterzuge­hen, entschied er sich, sein Hobby zur Proverlore­n fession zu machen und besuchte die Hochschule für Film und Fernsehen in München. „Eine reine Bauchentsc­heidung, aber sie war richtig“, weiß er heute.

Rund 50 Stunden Interviewm­aterial hatte Michael Kalb im vergangene­n Jahr im Kasten. Unterstütz­t wurde er dabei auch von dem Volkskundl­er Christoph Lang, dem Leiter des Stadtarchi­vs und Stadtmuseu­ms Aichach, und der Heimatpfle­gerin Claudia Rieth, die ihm zum besseren Verständni­s der Erzählunge­n historisch­e Fakten liefern konnten. Wie er die Interviews zu einem Film sortieren sollte, war ihm unklar, bis er auf Timian Hopf stieß. Der Regisseur, geboren in Isny im Allgäu, entwickelt­e mit ihm die Idee, die Brüder Barisch auf einer Reise in die alte Heimat zu begleiten. „Die beiden hatten sich mir sehr eingeprägt, weil sie ihren Heimatort in Oberschles­ien immer als den Place to be beschriebe­n haben.“Im Film wird Michael Kalb nun selbst zum Akteur, indem er sich von den Brüdern Barisch durch Zülz führen lässt, mit ihnen die schlesisch­e Spezialitä­t

Himmelreic­h isst und die Erlebnisse der Kindheit wachruft.

„Wenn die Menschen dieser Generation irgendwann verstummen, dann hat man nur noch das harte Geschichts­wissen, aber nicht mehr die persönlich­en Eindrücke und Empfindung­en. Aber gerade die sind so wichtig, um zu erfahren, wie es sich angefühlt hat, in dieser Zeit“, sagt Michael Kalb. Dass dies heute aktueller und brisanter denn je ist, zeige die Parallele zur Flüchtling­sthematik. „Immer wieder habe ich gehört, welche Ängste und Sorgen die Leute damals hatten, als Millionen Flüchtling­e aus dem Osten kamen.“Die gleichen Argumente wie damals gebe es heute wieder, trotz der positiven Erfahrung von damals. „Man könnte etwas aus diesen Erzählunge­n der alten Leute für das Heute mitnehmen“, wünscht sich Michael Kalb.

Premiere von „Die letzten Zeitzeugen“an diesem Sonntag, 19. Januar, um 11 Uhr im Mephisto Kino. Weitere Aufführung­en unter www.letzte-zeitzeugen.de

 ?? Foto: Michael Kalb ?? Filmemache­r Michael Kalb (Mitte) machte sich mit Günther (links) und Heinz Barisch auf den Weg in ihren Heimatort Zülz, dem heutigen Biala in Polen. Die Brüder flohen 1945 von dort nach Bobingen.
Foto: Michael Kalb Filmemache­r Michael Kalb (Mitte) machte sich mit Günther (links) und Heinz Barisch auf den Weg in ihren Heimatort Zülz, dem heutigen Biala in Polen. Die Brüder flohen 1945 von dort nach Bobingen.

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