Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Tränen des stärksten Mannes der Welt

Ein Bild und seine Geschichte 2008 gewann Matthias Steiner Olympia-Gold im Gewichtheb­en. Die Medaille widmete er seiner Frau, die ein Jahr zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen war (Serie, Teil 10)

- VON JAN KOTULLA

Da stand der Koloss, hielt ein Sträußchen Blumen und seine Goldmedail­le in der einen Hand und wischte sich mit dem anderen Arm immer wieder Tränen aus den Augen – vergeblich. Dabei ließ Matthias Steiner das Foto seiner Frau Susann nicht los. Die Geste ist einer dieser olympische­n Momente, die unvergesse­n bleiben – und das Bild dieser Szene ging um die Welt.

An diesem 19. August 2008 in Peking war der gebürtige Österreich­er in der Sporthalle der Universitä­t für Luft- und Raumfahrt zu einem Star geworden. Steiner hatte eine 258 Kilogramm schwere Hantel in die Höhe gestoßen und sich zum „stärksten Mann der Welt“gekrönt. Angesichts der Fülle an Emotionen, die vor, während und nach dem Wettkampf auf ihn einprassel­ten, brachen beim damals 25-Jährigen alle Dämme.

„Dieses Gold widme ich Susann. Ich hoffe und denke, dass sie das mitbekommt. Ich bin kein abergläubi­scher Typ, aber ich wünsche mir, dass es so ist. Ich freue mich für jeden, der mir geholfen hat. Vor allem aber für meine Frau“, erklärte Steiner, nachdem er seine Sprache wiedergefu­nden hatte.

2005 hatte das Paar geheiratet, 2007 starb Susann bei einem Autounfall in der Nähe von Heidelberg. Ein Schicksals­schlag, an dem andere

Der Superschwe­rgewichtle­r kämpfte weiter – auch für Susann. Und das, obwohl sich durch ihren Tod Steiners Einbürgeru­ng verzögerte. Erst Anfang 2008 bekam er den deutschen Pass.

Dass Steiner überhaupt für Deutschlan­d hob, war einem verbalen Ausrutsche­r der ganz bitteren Sorte zu verdanken: Nach dem schwachen EM-Abschneide­n 2005 hatte der damalige Verbands-Vize Martin Schödl öffentlich erklärt, Steiner könne künftig für Schweden, Deutschlan­d, Kasachstan oder Teppichlan­d an den Start gehen. „Da gab es für mich nur zwei Mög

Aufhören oder nach Deutschlan­d zu gehen“, verdeutlic­hte der so Beschimpft­e.

Für Groll war dann bei der Feier im Deutschen Haus von Peking mit Vater Fritz und Mutter Michaela aber überhaupt kein Platz. Bis gegen sechs Uhr in der Früh ging die Party. Wenige Stunden später glänzte Steiner auf der Pressekonf­erenz und stahl dort dem Gold-Triathlete­n Jan Frodeno die Show. Der „SUPERSTEIN­ER“, wie die China Daily den 25-Jährigen in riesigen Lettern feierte, genoss die Anerkennun­g, die Schulterkl­opfer und Gratulatio­nen.

Sie waren ein kleiner Vorgezerbr­echen. schmack auf das, was in den nächsten Wochen und Monaten auf Steiner zukommen sollte, ihn fast zu überrollen drohte – ein Medienmara­thon. Als erster Gewichtheb­er wurde er in Baden-Baden als „Sportler des Jahres“ausgezeich­net. „Nach dem Olympiasie­g kam so viel auf mich zu, dass ich gar nicht wusste, was passiert. Ich wurde quasi in jede Sendung eingeladen“, erinnerte sich Steiner.

Unterstütz­ung und Halt hat Steiner mittlerwei­le bei seiner jetzigen Frau Inge gefunden. Beide lernten sich im Zuge der Berichters­tattung über den Olympiasie­ger im Dezemlichk­eiten: ber 2008 kennen. Und Inge war auch hautnah dabei, als Steiner bei den Sommerspie­len 2012 in London erneut für einen dramatisch­en Moment sorgte. Dem Superschwe­rgewichtle­r gelang es nicht, die 196 Kilogramm ruhig zu halten, die Hantel knallte ihm stattdesse­n auf den Nacken. „Es hat richtig wehgetan und sich so angefühlt, als ob jemand einen nassen Waschlappe­n auf meiner Wirbelsäul­e auswringt“, beschrieb Steiner.

„Ich kann wohl nur Drama“, konnte er schnell über sein Missgeschi­ck Witze machen, denn der Unfall endete glimpflich: ein paar Prellungen und Zerrungen, dazu eine Bandverlet­zung an der Halswirbel­säule. Dem Familienme­nschen Steiner reichte es, 2013 beendete er seine Karriere. Und der Koloss von 2008 mit 145 Kilogramm hat nach dem Ende seiner aktiven Sportlerka­rriere innerhalb eines Jahres über 40 Kilogramm abgespeckt. Wie er das geschafft hat und vor allem sein Gewicht hält, darüber hält Steiner Vorträge, schreibt Bücher. Seit 2016 lebt er mit seiner Frau und den Söhnen Felix und Max wieder in Österreich – in der Nähe von Wien.

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Die Serie „Ein Bild und seine Geschichte“beschreibt herausrage­nde und unvergesse­ne Momente der Weltgeschi­chte des Sports, die wir in unregelmäß­igen Abständen veröffentl­ichen.

BUNDESLIGA, MÄNNER V. FREITAG (48:43)

Dragic 29 Pk., Harvey 20, Hayes 15, Jerrett 11 – Seiferth 19, Bruinsma 1, Alford 16, Doreth 10 5807

 ?? Foto: Valeria Witters ?? Das „Sportfoto des Jahres“2008: Matthias Steiner, Olympiasie­ger von Peking mit Blumen, Medaille und einem Bild seiner verstorben­en Frau Susann, wischt sich bei der Siegerehru­ng immer wieder Tränen aus den Augen.
Foto: Valeria Witters Das „Sportfoto des Jahres“2008: Matthias Steiner, Olympiasie­ger von Peking mit Blumen, Medaille und einem Bild seiner verstorben­en Frau Susann, wischt sich bei der Siegerehru­ng immer wieder Tränen aus den Augen.

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