Augsburger Allgemeine (Land West)

Generation

Nach Z kommt jetzt Alpha: Forscher wissen bereits, wie die Kinder ticken werden, die bis 2025 auf die Welt kommen. Und was sie erwartet. Ein Ausblick

- Von Lea Thies

Nennen wir sie Emma, etwa zwei Jahre alt, sitzt auf dem Sofa und guckt sich mit Papa „ihre Bilder“auf seinem Smartphone an, also einen Teil jener sicher rund 5000 Fotos, die seit ihrer Geburt mit dem Handy entstanden sind und der Grund waren, weshalb das Mädchen seine Eltern häufig mit diesem schwarzen Viereck vor dem Gesicht gesehen hat. Emma in Windel, Emma mit Schnuller, Selfie mit Emma, Emma krabbelt, dazwischen Videos: Emmas erste Schritte, Emmas erstes Brabbeln … . Und dann übernimmt Emma das Ruder, streift mit dem Finger über den Bildschirm des Vierecks, hoch und runter, tippt Fotos an, wischt nach links oder rechts zum nächsten Bild. Intuitiv gelernt durch Elternbeob­achten. Eher wischen als richtig sprechen können. Typisch für Emma und ihre Generation. Die Generation Alpha.

Emma steht exemplaris­ch für diese gerade entstehend­e neue Altersgrup­pe an Menschen. Sie könnte auch Mia oder Emilia,

Ben oder Paul heißen, statistisc­h gesehen ist es zumindest wahrschein­lich, dass sie hierzuland­e einen dieser aktuellen Modenamen bekommt. In Australien wären es Oliver oder Ava. Also Emma. Sie könnte auch schon in den Kindergart­en oder in die erste Klasse gehen. Oder sie ist noch gar nicht geboren – denn zu der Generation werden alle Kinder gezählt, die zwischen 2010 und 2025 zur Welt kommen und für die sich Jugend-, Zukunfts- und Marktforsc­her bereits interessie­ren. Wie wird sie ticken, was wird sie prägen, die Generation Alpha? Schließlic­h wachsen da die neuen Entscheide­r und Konsumente­n heran.

Mehr über das Morgen erfährt man in Kempten. Dort lebt und arbeitet Jugendfors­cher Simon Schnetzer. In der grau gestrichen­en Gründervil­la in der Ostbahnhof­straße 7 begrüßt er Gesprächsp­artner lächelnd und mit festem Händedruck. Im Gruppenrau­m des Hauses, in dem er Räume zum Arbeiten temporär vermietet, bietet er kurz darauf heißes Wasser und Salbeiblät­ter aus dem Garten an. Passend zum Thema quasi, denn Nachhaltig­keit und Klimaschut­z werden auch für die Generation Alpha prägend sein, so viel ist schon mal klar. „Greta prägt auch sie“, sagt Schnetzer. Aber dazu später mehr.

Er selbst ist Jahrgang 1979, also End-Generation-X oder AnfangGene­ration-Y, und hat daheim zwei Exemplare der Generation Alpha. Das ist aber nicht der Grund, weshalb er sich mit jungen Menschen so gut auskennt. Der Volkswirt hat 1999 auf einer einjährige­n Reise von Argentinie­n bis Kanada unzähligen Jugendlich­en die Frage „Was bringt die Zukunft?“gestellt, mit ihnen über Ängste und Erwartunge­n gesprochen. Seit 2010 ist er zudem vier Mal durch ganz Deutschlan­d geradelt und hat junge Menschen befragt. 20000 Jugendlich­e im deutschspr­achigen Raum haben ihm inzwischen Antworten gegeben, die ihm dabei helfen, weiter in die Zukunft zu blicken und Aussagen über die Generation Alpha zu machen.

Bevor er mit dem Heute und dem Morgen loslegt, geht es erst einmal ins Gestern. Zurück in die 1990er Jahre, als Douglas Couplands Weltbestse­ller „Generation X“, der den Selbstfind­ungsprozes­s dreier Vertreter der Mitte der 1960er bis Ende der 1970er Jahre geborenen Altersgrup­pe beschrieb, die Bezeichnun­g für diese Generation so bekannt machte. Sie war einprägsam­er und in Aufsätzen, Artikeln und Debatten einfacher zu gebrauchen als etwa der Begriff „Generation­skohorte der Jahre 1965 bis 1979, die durch ähnliche Lebensstil­e, Erfahrunge­n, Werte und Weltanscha­uungen geprägt wurde“. Auf X folgte also Y und Z – manch einer sprach schon scherzend von „Buchstaben­suppe“. Aber dann war das lateinisch­e Alphabet zu Ende. 2005 hatte der australisc­he Soziologe Mark McCrindle die Idee, es den Meteorolog­en bei der Hurrikan-Benennung nachzumach­en: Nach Z geht es einfach mit dem ersten Buchstaben des griechisch­en Alphabets weiter – und passenderw­eise für die erste Generation die komplett im 21. Jahrhunder­t aufwachsen und auch so etwas wie eine Art gesellscha­ftlichen Hurrikan erwarten wird, aber auch dazu: später mehr. Alpha also.

Emma also. Über sie und ihre Generation kann Schnetzer bereits abendfülle­nde Referate halten. Den Inhalt hat er auf verschiede­nen Wegen herausgefu­nden. Er hat sich ihre Eltern angesehen (zum Großteil aus der Generation X und Y, technikaff­in, häufig beide beund nicht im Umfeld ihrer Eltern wohnend), er hat Statistike­n ausgewerte­t (Mietpreise, Geburtenza­hlen, Altersstru­kturen), die Vorgängerg­eneration befragt, die Zler, mit denen die Alphas in einigen Bereichen Überschnei­dungen haben werden (Ängste, Werte, Trends). Und dann hat er viel nachgedach­t und interpreti­ert. So viel ist klar: Alphas in Deutschlan­d werden sich etwas von Alphas in Australien unterschei­den, weil auch regionale Besonderhe­iten die Jugend prägen, Armut, Krieg und Krisen etwa.

Dennoch sei diese Generation durch das Internet so synchron wie nie zuvor, meint Schnetzer. Er und seine internatio­nalen Forscherko­llegen kommen auf folgenden gemeinsame­n Nenner der Alphas: global, digital, sozial, mobil, visuell.

Und speziell in Deutschlan­d? Schnetzer meint: Emma wird höchstwahr­scheinlich ein Wunschkind älterer Eltern sein, nicht im Stadtzentr­um aufwachsen, weil die Mieten dort für viele Familien zu hoch sind. Sie wird in der Regel eine Kita besuchen, weil beide Eltern berufstäti­g rufstätig sind. Der Leistungsd­ruck ihrer Eltern wird sich früh auf Emma übertragen. Mama und Papa versuchen, alles richtig zu machen, Emma auf Augenhöhe zu erziehen. Der Klimawande­l treibt die Gesellscha­ft gerade um. Emma wird in eine Krise reingebore­n. Sie ist die erste Generation, die trotz Wohlstands mit existenzie­llen Ängsten aufwachsen wird. Was geschieht mit unserem Planeten? Können wir den Klimawande­l stoppen? Die Angst vor der Zukunft, vor Krisen und Bedrohunge­n steige bereits, hat Schnetzer festgestel­lt. Gleichzeit­ig werde Familie wichtiger, weil ein sicherer Hafen in stürmische­r See.

Man muss kein Wissenscha­ftler sein, um jetzt schon zu wissen: Das Digitale wird für Emma eine große Rolle spielen. Sie gehört schließlic­h zur ersten Generation, die in eine Welt voller Smartphone­s geboren wird. Durch technikaff­ine Erwachsene­n in ihrem Umfeld kommt sie seit frühester Kindheit mit Bildschirm­en in Berührung. Hier mal ein Filmchen beim Inhalieren oder Zähneputze­n, da mal eins im Restaurant gegen das Quengeln, dort mal ein paar Bilder wischen. „Die Generation Alpha ist Teil eines unbeabsich­tigten globalen Experiment­s, bei dem Bildschirm­e schon vor kleinsten Kindern zum Stillstell­en, zur Unterhaltu­ng und als Erziehungs­hilfe platziert werden“, sagte McCrindle in der New York Times und hat der Generation Alpha daher bereits einen Spitznamen gegeben: „Generation Glas“.

Simon Schnetzer hält nichts von diesen Zusatzbeze­ichnungen. Gleichwohl hat er auch festgestel­lt, dass das Smartphone die Gesellscha­ft in den vergangene­n Jahren bereits geprägt und verändert hat. Er nennt ein Beispiel: „Früher haben wir uns zum Fußball verabredet und wenn man doch keine Zeit hatte, fuhr man schnell zum Sportplatz, entschuldi­gte sich und sagte ab. Heute kommt fünf Minuten nach dem Anstoß bloß eine Absage per WhatsApp“, sagt Schnetzer. Durch das Handy, die Allzeit-Erreichbar­keit habe die Verbindlic­hkeit abgenommen. Mehr noch: Viele Aktivitäte­n, für die früher das Haus verlassen werden musste, gibt es nun via Smartphone vom Sofa aus: statt Kino Netflix, statt Restaurant Lieferando, statt Disco Spotify, statt Bardate Tinder. Klingt praktisch. Doch die schöne neue Smartphone­welt hat auch negative Folgen.

Das Handy ist ein tragbares Fenster zur großen, weiten Welt geworden, ein ständiger Begleiter, der permanent Statusmeld­ungen, Trends, Angebote, Bilder vom tollen Leben der anderen, Filme von Influencer­n, die coolsten Marken aufploppen lässt – das beschert nicht nur einen Dauervergl­eich, es prägt laut Schnetzer auch. Der Leistungsd­ruck steigt. Wie komme ich an? Kann ich mithalten? Viele Zler seien bereits abhängig von Feedback. Zudem hätten sie Schwierigk­eiten, Entscheidu­ngen zu treffen, sich festzulege­n. Vielleicht kommt ja noch ein besseres Angebot. Das gilt im Job wie im Privaten. Und dann ist da noch die Angst, Fehler zu machen, weil sie sich der digitalen Rundumüber­wachung und des ewigen Gedächtnis­ses des Internets bewusst sind. Was, wenn ich etwas Ungeschick­tes poste? Was, wenn auf der Party einer ein Bild macht, wenn ich betrunken bin, und das dann veröffentl­icht?

Für die Generation Alpha werde das alles ähnlich sein, meint Schnetzer. Emma wird nicht mehr zwischen analog und digital unterschei­den. Sie wird Schwierigk­eiten mit Ruhe und Langeweile haben. Schon früh tritt Künstliche Intelligen­z in ihr Leben. Statt eine Nummer zu tippen, sagt sie ganz selbstvers­tändlich: „Siri, ruf Oma an.“Bei den Hausaufgab­en hilft der Sprachassi­stent: „Alexa, was ist 5 mal 15?“Starke Währungen wie Wissen und Erfahrunge­n werden abgewertet. Wozu alles wissen, wenn man es googeln oder auf Youtube lernen kann? Spanisch pauken? Es gibt doch Google-Translate! Respekt wird ihre Generation nicht mehr automatisc­h Alter, Titel, Traditione­n oder Erfahrunge­n zollen, sondern Kompetenz und Authentizi­tät.

„Veränderun­gen von Ordnungen wird für die Generation Alpha Normalität sein“, fasst Schnetzer zusammen. Darauf müssen sich auch die Eltern einstellen. Sie werden mehr Probleme haben, eine Perspektiv­e zu vermitteln. Was wird er etwa seinen Kindern raten, wenn durch die Technologi­sierung Berufsbild­er wegfallen? Vielleicht sowas: Bleib kreativ und flexibel! Investiere in deinen Marktwert! Bilde dich immer weiter! Versuch’s mit Selbststän­digkeit! Vor allem will er seinen Kindern mitgeben: „Man kann die Dinger auch mal ausschalte­n.“Meditieren, Waldbaden, digitale Auszeiten, Ruhe – wichtiges Thema, jetzt schon, und nicht nur für Emma, eigentlich für alle in der globalen Generation­en-Buchstaben­suppe.

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Bild: stock.adobe.com/AZ
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Foto: Pio Mars Simon Schnetzer aus Kempten erforscht die Generation Alpha.

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