Augsburger Allgemeine (Land West)
„Man darf den Fußball nicht überhöhen“
Interview Der ehemalige DFL- und FCA-Geschäftsführer Andreas Rettig fordert, dass Bundesliga und Politik andere Sportarten unterstützen sollen. Insolvenzen von Profi-Klubs infolge der Corona-Krise kann er sich nicht vorstellen
Herr Rettig, haben Sie schon ein Glückwunschschreiben von Sky oder der DFL erhalten?
Andreas Rettig: Nein, das wäre auch noch zu früh. Ich feiere ja erst Ende des Monats meinen Geburtstag.
Hintergrund der Frage ist natürlich der „Historische Spieltag“, den Sky am Wochenende erstmals zeigte. Statt Live-Spielen gibt es nun bis Ende April historische Partien aus der Konserve. Der TV-Sender würdigte sie ausdrücklich als Ideengeber. Retten Sie damit die Bundesliga?
Rettig: Nein, in Zusammenhang mit einem Wort wie Rettung schießen einem derzeit andere Gedanken durch den Kopf. Wir sollten in erster Linie die Leben der Menschen retten, die mit dem Virus infiziert sind. Aber es war eine tolle Sache. Ich habe mich selber dabei ertappt, wie ich mich gefreut habe, als ich die alten FCA-Haudegen wie Daniel Baier, Jan-Ingwer Callssen-Bracker oder Tobi Werner im Einsatz gesehen habe (Anm. d. Red.: Sky zeigte den 3:0-Sieg des FCA gegen Paderborn aus der Saison 2014/15).
FCA-Spieler Tobias Werner haben Sie wegen seines Doppelpacks sogar zum Spieler des Spieltags gekürt … Rettig: Ja. Bas Dost, der bei Wolfsburgs 5:4-Sieg gegen Leverkusen
einen Sahnetag erwischte und viermal traf, möge es mir nachsehen. Bei Tobi Werner hat das Ganze jedenfalls für ein Schmunzeln gesorgt, wie er mir per SMS bestätigte.
Wie kam die Idee denn zustande? Rettig: Not macht erfinderisch. Als Fußballfan bestimmt der Sport ja den Wochenrhythmus. Und ich dachte mir: Das kann ja nicht sein, dass man jetzt so vor sich hingammelt. Ich habe mich bei Sky mit der Idee gemeldet – dass sie das aufgegriffen haben, ist großartig. Den Fußballfan wieder mit Taktiken, Aufstellungen und Formkurven zu beschäftigen und sei es auch nur mit Spielen aus der Konserve – dieses Gefühl sollte wieder belebt werden.
Wie waren die Rückmeldungen? Rettig: Generell positiv – Kritik gab es nur unmittelbar nach meiner Schalte ins Sky-Studio, weil ich in meiner Bundesliga-Stecktabelle den FC St. Pauli auf Platz 1 in der Bundesliga gesetzt hatte. Da muss ich in der allgemeinen Hektik wohl einen Fehler gemacht haben. Das Format wird übrigens fortgesetzt: Für den FCA steht am Wochenende
Auswärtsspiel in Berlin an. Das 3:0 gegen Paderborn sollte Rückenwind gegeben haben.
Zurück zum Alltag: Viele Bundesligavereine trifft der Corona-Stopp schwer. 13 von 36 Profi-Klubs sollen kurz vor der Insolvenz stehen. Sie haben als ehemaliger Geschäftsführer der DFL einen detaillierten Einblick in die Szene. Hätten Sie gedacht, dass die Lage derart brisant ist?
Rettig: Kein Unternehmen – weder in unserem Land noch weltweit – war auf diese Krise vorbereitet. Aber wenn die größten Erlösbringer wegbrechen – und im Profi-Fußball sind das nun mal die Einnahmen aus dem TV und dem Sponsoring –, dann verkraftet das kein Unternehmen. Aber die wirtschaftlichen Kennzahlen sind nicht so schlecht. Die Vereine haben in den letzten Jahren genügend Kapital aufgebaut. Deswegen glaube und hoffe ich nicht, dass ein Klub über die Klinge springen muss.
Anfang Mai soll die Bundesliga wieder mit Geisterspielen zu Ende starten. Die Rahmenbedingungen haben es in sich, wie Virologen betonen: Jeder Spieler müsste regelmäßig getestet werden, während viele Normalsterbliche lange auf einen Corona-Test warten. Ist diese Ungleichbehandlung der Öffentlichkeit zu vermitteln?
Rettig: Das ist in der Tat ein echter Balance-Akt. Dieser Weg wäre schwierig zu vermitteln, wenn das Gefühl entstünde, dass Tests für den Fußball zulasten der Bevölkerung gehen. Da hoffe ich, dass die neue Medizin-Kommission der DFL zu einem Ergebnis kommt, das nicht zulasten der Bevölkerung geht.
Ins Spiel gebracht wurde zum Beispiel die Variante, dass Fußball-Klubs für die Kosten von allgemeinen CoronaTests aufkommen könnten.
Rettig: Welchen Weg man gehen kann, sollen die Experten vorschlagen. Aber ich bin mir sicher, dass es bei der DFL ein großes Verantwordas tungsbewusstsein gibt. Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass der Abwägungsprozess Geisterspiele nicht rechtfertigt, dann wird man das auch nicht machen.
Wobei Fußball nicht nur eine schöne Ablenkung sein könnte – am Profigeschäft hängen über 150 000 Jobs. Rettig: Der Fußball hat in unserem Land einen hohen Stellenwert, es gibt etwa 20 Millionen Fußballinteressierte, die sich an jedem Wochenende für die Spiele interessieren. Aber man darf den Fußball auch nicht überhöhen, gerade was die wirtschaftlichen Dinge angeht. Bei einem Gesamtumsatz von knapp fünf Milliarden Euro ist das, was der Profifußball leistet, gesamtwirtschaftich zu vernachlässigen.
Für andere Sportarten wie Handball oder Basketball sind Geisterspiele keine Option, weil dort die Zuschauereinnahmen viel wichtiger sind. Droht diesen Sportarten jetzt das Aus?
Rettig: Das ist etwas, was einen als Sportfan bedrückt: die größere Perspektivlosigkeit dieser Sportarten, die zuletzt schon schwer zu kämpfen hatten, weil der Fußball eine alles überstrahlende Rolle gespielt hat. Ich hoffe: Wenn alles zur Normalität übergegangen ist, sollte es einen sportartübergreifenden Solidaritätsgedanken geben, der der besonderen Bedeutung des Sports im Allgemeinen für die Gesellschaft Rechnung trägt.
Soll heißen: Der DFB und die DFL sollten den anderen Sportarten finanziell unter die Arme greifen?
Rettig: Natürlich hat jetzt jeder genügend mit sich selbst zu tun. Doch im Fußball sollten wir die anderen Sportarten nicht vergessen. Und dann sehe ich auch bei den Sportarten, die nicht diese wirtschaftlichen Möglichkeiten haben, die Politik gefordert. Der Profi-Fußball sollte sich erst einmal selbst helfen.
Der FC Augsburg handelte sich Kritik ein, weil er als erster Bundesligaverein wieder auf dem Feld trainierte. Zu Recht?
Rettig: Ich habe die Führungsriege beim FCA immer als faire und verantwortungsbewusste Entscheider wahrgenommen. Aber allgemein: Vor allem in der jetzigen, aufgeheizten Situation sollten wir uns etwas mehr Gelassenheit zulegen.
Wie geht es Ihnen eigentlich mit der Quarantäne?
Rettig: Meine Frau arbeitet in einer Apotheke und ist somit, wie viele in diesem Bereich, vor denen ich den Hut ziehe, einer besonderen Situation ausgesetzt. Aber ansonsten gilt für mich wie für jeden in unserem Land: Es gab schon mal schönere Zeiten.
Nach ihrem freiwilligen Rückzug beim FC St. Pauli sind Sie derzeit Privatier. Wann sieht man Sie wieder im Fußballgeschäft?
Rettig: Diese Frage klären Sie bitte mit meiner Frau.
Interview: Florian Eisele
● Andreas Rettig, 56, war von 2015 bis 2019 Kaufmännischer Leiter beim FC St. Pauli. Davor war er Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (2013 – 2015) und unter anderem Geschäftsführer beim FC Augsburg (2006 – 2012). Mit dem FCA gelang im Jahr 2011 der Aufstieg in die Bundesliga.