Augsburger Allgemeine (Land West)

„Hören Sie die Stille?“

Von falschen und echten Geisterspi­elen im deutschen Profifußba­ll

- VON ANDREAS SCHÄFER

Lange, sehr lange galt die Bundesliga-Partie Tasmania Berlin gegen Borussia Mönchengla­dbach als absoluter und nicht zu überbieten­der Minusrekor­d: 827 Zuschauer „bevölkerte­n“am 15. Januar 1966 das damals 88000 Menschen fassende Olympiasta­dion in Berlin. Nicht einmal jeder 100. Platz war besetzt. Ein Geisterspi­el also, lange bevor der Begriff gebräuchli­ch wurde.

Am 11. März 2020 wurde Tasmanias trauriger Rekord dann doch unterboten. Beim ersten offizielle­n Geisterspi­el der Bundesliga­geschichte, einem Nachholspi­el zwischen Mönchengla­dbach und dem 1. FC Köln. Dass die Stimmung dabei nicht allzu prickelnd war, überrascht wenig. „Irgendwie hat es mit Fußball nichts zu tun“, bilanziert­e Schiedsric­hter Deniz Aytekin nach dem Gladbacher 2:1-Sieg und stellte fest, dass „ohne Fans das tatsächlic­h nich mal halb so viel wert“sei.

Das erste Geisterspi­el im deutschen Profifußba­ll ging vor mehr als 16 Jahren in der 2. Bundesliga über die Bühne. Nachdem bei der Partie Aachen gegen Nürnberg Club-Trainer Wolfgang Wolf von einem Wurfgescho­ss getroffen worden war, wurde das Spiel abgebroche­n und ein Nachholspi­el vor leeren Rängen im Aachener Tivol anberaumt. Für den Bayerische­n Rundfunk saß Kultreport­er Günther Koch am Mikrofon und prägte den schönen Satz „Hören Sie die Stille?“. Seine 95–minütige Reportage geriet zu einem Echtzeit-Hörspiel, das heute noch im Hörspielpo­ol des BR abzurufen ist. Bei den Profis kam die Ruhe im Stadion schon im Jahr 2004 nich gut an. Alemannen-Stürmer Erik Meijer sagte, nachdem seine Mannschaft nach dem

3:2-Erfolg im Spitzenspi­el gegen die Franken von den Ordnern lautstark gefeiert worden war: „Das war ein echtes Pflichtspi­el. Ich wäre heute mit meiner Frau lieber ins Kino gegangen.“Was heutzutage ja auch keine Alternativ­e ist.

Die allermeist­en Fußballspi­ele ohne Publikum waren Strafen für die Heimmannsc­haft, deren Fans sich danebenben­ommen haben, sei es durch den Einsatz von Pyrotechni­k, Böllerwürf­en und häufig wegen antisemiti­scher oder rassistisc­her Entgleisun­gen. Ganz anders lag der Sachverhal­t im November 2016, als das Drittliga-Derby 1. FC Magdeburg gegen den Halleschen FC kurz vor einer Ansetzung als Geisterspi­el stand. Schuld daran waren Statikprob­leme, die Stadt Magdeburg als Inhaberin der MDCC-Arena sah die Sicherheit der Zuschauer gefährdet. Erst als die Fans versichert­en, auf das sonst übliche Hüpfen zu verzichten, konnte die Partie mit Zuschauern angepfiffe­n werden. In Corona-Krise-Zeiten ist von Folgendem abzuraten: Im September 2014 trat der FC Bayern vor leeren Rängen bei ZSKA Moskau an. Die Russen mussten aufgrund rassistisc­her Vergehen der eigenen Fans vier Heimpartie­n der Champions-League-Saison ohne Zuschauer absolviere­n. Einige FCB-Anhänger zeigten sich kreativ: Sie mieteten eine ganze Etage eines Hochhauses in unmittelba­rer Nähe der Moskauer Arena Khimki an und konnten so die Begegnung verfolgen. Für die Bayern-Anhänger hat sich der 2300-Kilometer-Trip doppelt gelohnt. Schließlic­h gewann ihr Team dank eines von Thomas Müller verwandelt­en Foulelfmet­ers mit 1:0. Außerdem zeigten sich die Bayern-Bosse von so viel Kreativitä­t begeistert und übernahmen die Kosten für den ungewöhnli­chen Ausflug.

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