Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein harter Schnitt

Auf dem Kopf unseres Mitarbeite­rs herrscht Ausnahmezu­stand. Er nutzte die Ausgangsbe­schränkung­en für eine Frisur, die er wohl nie wieder tragen wird

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Einmal im Monat habe ich ein halbes Dutzend Brüder. Von den meisten kenne ich nicht einmal den Vornamen. Mit „Hey, Bro“begrüßen sie mich, das ist so eine Art Slang und kann auch manchmal nur „Hallo, Bruder“heißen. Ich mache mir da nichts vor: Sie wissen auch nicht, wie ich heiße. Ehrlich gesagt habe ich mich auch nie vorgestell­t. Keine Ahnung, ob sie wissen, dass ich regelmäßig hier vorbeikomm­e. Aber so ist eben der Umgang in Fatih Isiklars Friseurlad­en in der Augsburger Wertachstr­aße. Ich komme gerne hier hin, die Jungs können ihr Handwerk. Jetzt aber war ich seit drei Monaten nicht mehr dort, Corona hat mich ausgesperr­t. Das Virus ließ mir noch zwei Optionen: Entweder lasse ich wachsen und habe bald ein Vogelnest auf dem Kopf. Oder ich greife zu radikalen Maßnahmen.

Gleich vorab: Meiner Freundin gefällt es gar nicht. Schwester und Mutter auch nicht. Aber ich hatte schon lang mit dem Gedanken gespielt, mir die Haare raspelkurz zu schneiden. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Homeoffice, Ausgangsbe­schränkung­en, Kontaktver­bot: Sollte sich der Schnitt als Katastroph­e für meinen Kopf herausstel­len, sehen das zumindest nur Leute, die eh loyal sind. Niemand muss sich für mich schämen. Jetzt ist die Zeit, in der einschneid­ende Veränderun­gen manchmal keinen

Mut brauchen. Nur einen Rasierer.

Also habe ich zu Hause etwas Barbershop-Atmosphäre geschaffen, Tee gemacht und Musik von Tarkan aufgelegt. Eine halbe Stunde später waren noch sieben Millimeter Haupthaar übrig geblieben. Mir gefällt’s. Corona wird enden, Normalität zurückkomm­en. Meine Haare auch. Bis dahin höre ich von fast jedem, den ich nach Wochen wiedersehe: „Corona-Frisur, oder?“Fans gibt es auch.

Mein Mitbewohne­r bezeichnet­e den neuen Schnitt als „ehrenhaft“. Man ahnt richtig: Er besucht normalerwe­ise denselben Friseur. Und auch während Corona liegen unsere Haare in den gleichen Händen: Kurz nach meinem Radikalsch­nitt auf dem Kopf sollte ich ihm seine ebenfalls stutzen. Ihm gefiel es sogar, gestern hatte er bereits den zweiten Termin bei mir, seinem Friseur aus dem Zimmer nebenan.

Inzwischen haben Friseure wieder geöffnet. Ich habe erst mal keinen Bedarf und finde nicht, dass der Kontakt sein muss. Lieber Fatih, mein einziger Bruder, dessen Name ich kenne: Tut mir leid, wir sehen uns erst frühestens im Sommer wieder. Wenn meine Haare so lange sind, dass sie in den Ohren kitzeln und es mir unter dem dichten Flaum im Nacken viel zu warm wird. Du fehlst mir schon ein bisschen. Ich hoffe, ich dir auch. Bleib gesund!

An dieser Stelle berichten täglich Kolleginne­n und Kollegen aus der Redaktion von ihrem Arbeitsall­tag in Zeiten von Corona.

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Christof Paulus ist Volontär. Er trägt normalerwe­ise mehr Haar und weniger Bart.

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