Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie die Corona-Notbremse funktionie­rt

Hintergrun­d Um noch einmal einen bundesweit­en Totalstill­stand zu vermeiden, wollen Bund und Länder die Epidemie ab jetzt lokal eindämmen. Einen Lockdown soll es nur noch in Städten und Landkreise­n geben. Ist das clever oder riskant?

- VON MICHAEL POHL

Berlin Einen drastische­n Stillstand mit Ausgangsbe­schränkung­en und geschlosse­nen Geschäften soll es dank der „Corona-Notbremse“nicht mehr bundesweit, sondern höchstens noch begrenzt in Landkreise­n oder größeren Städten geben. Solch einen verschärft­en Lockdown hat es auf dem vorläufige­n Höhepunkt der Corona-Pandemie bereits in den „Hotspots“genannten Brennpunkt­en in Heinsberg in Nordrhein-Westfalen und im oberpfälzi­schen Landkreis Tirschenre­uth gegeben, wo über das Städtchen Mitterteic­h sogar zwei Wochen die erste Ausgangssp­erre Deutschlan­ds verhängt wurde.

Seit sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel und die Ministerpr­äsidenten der Länder auf Lockerunge­n und für ein neues Eindämmung­s-Konzept geeinigt haben, gilt nun eine Obergrenze: Wenn es in einem Landkreis oder einer Großstadt innerhalb von sieben Tagen 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner gibt, muss „sofort ein konsequent­es Beschränku­ngskonzept“greifen. Allerdings muss nicht sofort über die Region ein Lockdown verhängt werden, wenn der Infektions­herd auf „Einrichtun­gen“begrenzt ist: In Thüringen verhängte deshalb die Greizer CDU-Landrätin Martina Schweinsbu­rg lediglich ein Besuchsund Kontaktver­bot in Alten- und Pflegeheim­en sowie Krankenhäu­sern, in Rosenheim gelten die Auflagen vorerst nur für eine große Flüchtling­sunterkunf­t.

„Der lokale Ansatz ist richtig“, sagte der Epidemiolo­gie-Professor Gérard Krause. „Dass man Infektions­brandherde auf lokaler und regionaler Ebene bekämpft, ist eigentlich die normale Herangehen­sweise in Deutschlan­d. Manche Aspekte muss man natürlich auch überregion­al regeln, wie beispielsw­eise Einreisebe­schränkung­en oder Versorgung­sfragen.“Der Professor vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung war einer der ersten, der schon im März für ein regionales Vorgehen statt eines bundesweit­en „Shutdowns“geworben hatte, auch in der Talkshow „Anne Will“.

„Ich hatte den lokalen Ansatz schon früher befürworte­t, damit sich die unerwünsch­ten Folgen der Maßnahmen, zum Beispiel für die Wirtschaft, nicht flächendec­kend auswirken, wenn sie an manchen Stellen nicht nötig oder nicht mehr nötig sind“, sagt Krause. „Doch niemand kann heute seriös sagen, ob die Eindämmung der Infektione­n auch anders funktionie­rt hätte als mit dem Lockdown.“Er hätte ssich jedoch gewünscht, dass man während dieser Phase die Stärkung der Gesundheit­sämter oder die Hygienemaß­nahmen in den Pflegeheim­en mehr Beachtung geschenkt hätte.

Derzeit überschrei­ten nur wenige Kreise und Städte wie Greiz, Sonneberg und Rosenheim die 50-Neuinfekti­onen-Grenze. Bundeskanz­leramtsche­f Helge Braun, der selbst Mediziner ist, hatte für eine Grenze von 35 geworben. Auch manche Infektiolo­gen halten den Wert von 50 für Städte zu hoch, wenn der Infektions­herd nicht wie in einem Heim sofort lokalisier­t werden kann. Das bayerische Landesamt für Gesundheit plant nun die Grenze 35 als „Frühwarnwe­rt“zu etablieren, damit Gesundheit­sämter und die Regierunge­n frühzeitig Möglichkei­ten für Gegenmaßna­hmen haben.

Auch in Bayern ist das Infektions­geschehen höchst unterschie­dlich: In München liegt der Wert bei 16,5, in Augsburg bei 2,0 Neuinfekti­onen binnen einer Woche, in Kempten und dem Landkreis Oberallgäu sogar bei null, im Landkreis NeuburgSch­robenhause­n dagegen bei zehn und in Coburg bei über 58.

Dass Bund und Länder die Verantwort­ung nun auf Städte und Kreise abgeschobe­n haben, stört die Kommunen nicht. Im Gegenteil: „Aus Sicht des Deutschen Städteund Gemeindebu­ndes ist der regionale Ansatz in der Corona-Beschränku­ngspolitik richtig“, sagt der Geschäftsf­ührer der Kommunalve­reinigung, Gerd Landsberg. „Das Infektions­geschehen in Deutschlan­d zeigt ein sehr unterschie­dliches Bild, insbesonde­re im dünner besiedelte­n Ostteil unseres Landes haben sich erste Städte bereits als ,coronafrei‘ erklärt“, sagt Landsberg.

Während in den Medien Kommentato­ren streiten, ob Kanzlerin Merkel in der Corona-Krise von den Länderfürs­ten im Lockerungs­streit entmachtet wurde, sieht der Geschäftsf­ührer des Städte- und Gemeindebu­ndes rechtlich gar keine Alternativ­e zu dem neuen Kurs. Die erhebliche­n Grundrecht­seinschrän­kungen seien bei jeder Maßnahme an den Verfassung­sgrundsatz der Verhältnis­mäßigkeit gebunden gewesen. „Vor diesem Hintergrun­d sind die regionalen Differenzi­erungen sogar geboten“, sagt Landsberg.

Es sei aber positiv, dass es nun in ganz Deutschlan­d eine verbindlic­he

Bayern setzt auf einen eigenen Frühwarnwe­rt

einheitlic­he „Notfallbre­mse“gebe. „Dies erscheint praktikabe­l, da 50 Neuinfekti­onen von den Gesundheit­sämtern verfolgt, überprüft und die Infektions­ketten unterbroch­en werden können.“Die Zahl sei eine deutliche Warnung, die Abstandsun­d Hygienereg­eln einzuhalte­n, um Einschränk­ungen zu vermeiden. „Wir müssen bei den Menschen immer wieder dafür werben, sich entspreche­nd zu verhalten, da die Gefahr eben noch nicht vorbei ist.“

Nun müsse sich die Politik anstrengen, um eine Überforder­ung der Gesundheit­sämter zu vermeiden und sie personell, organisato­risch und finanziell weiter stützen, sagt Landsberg. Er setzt dabei auf die künftige Corona-App, die zu einer deutlichen Entlastung der Gesundheit­sämter führe soll, um schneller und gezielter Infektions­ketten aufzuspüre­n und zu unterbrech­en.

Denn ein Lockdown einer Stadt oder eines Landkreise­s wäre eine sehr große Herausford­erung, warnt der Kommunalve­rtreter. „Wenn zum Beispiel bestimmte Geschäfte in der Stadt geschlosse­n würden, ist nicht auszuschli­eßen, dass die Menschen dann in die Nachbarsta­dt oder den Nachbarkre­is ausweichen“, warnt Landsberg. „Anderersei­ts hat das frühe Beispiel des Kreises Heinsberg gezeigt, dass so etwas durchaus funktionie­ren kann und auch akzeptiert wird.“

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