Augsburger Allgemeine (Land West)

Aufstiegsh­eld im Abstiegska­mpf

FDP Trotz eines riskanten Kurses in der Corona-Krise bekommt Christian Lindner die Krise bei den Liberalen nicht in den Griff – auch weil es einige Parteifreu­nde nicht gut mit ihm meinen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Thomas Kemmerich ist für die Krise von FDP-Chef Christian Lindner eine Art Brandbesch­leuniger. Das Debakel um den Thüringer Kurzzeit-Ministerpr­äsidenten von Gnaden der AfD hat die FDP im vergangene­n Februar in den Umfragekel­ler fallen lassen und auch Lindner mächtig in die Bredouille gebracht. Aus dem Tief führt im Corona-Ausnahmezu­stand seit Wochen scheinbar kein Weg heraus. Jetzt ist es wieder Kemmerich, der für Negativsch­lagzeilen sorgt, die schwelende Krise der Liberalen neu aufflammen lässt und die Zweifel an Lindners Führung verstärkt.

In Gera marschiert­e Kemmerich bei einem „Spaziergan­g“gegen die Infektions­schutzmaßn­ahmen mit, Seite an Seite mit Verschwöru­ngsgläubig­en und AfD-Leuten. Auch wenn Lindner sich dieses Mal schneller als im Februar vom thüringisc­hen Landeschef distanzier­te, ist der Ansehensve­rlust für die Partei enorm. Zumal Kemmerichs Aktion nicht der einzige Aufreger war, für den prominente Liberale in den vergangene­n Tagen sorgten. So löste der für markige Worte bekannte Parteivize Wolfgang Kubicki in der Talkshow von Anne Will Kopfschütt­eln aus. „Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er zu Hause bleiben“, sagte er mit Blick auf die CoronaGefa­hr. Und der baden-württember­gische Landeschef und Bundestags­fraktionsv­ize Michael Theurer machte mit einem vermeintli­chen Aufnahmean­gebot an den umstritten­en Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne) von sich reden. Die Grünen hatten Palmer den

nahegelegt, weil er sagte: „Wir retten in Deutschlan­d möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Lindner musste fürchten, dass die FDP in der Öffentlich­keit als herzlose Partei dastehen würde, der das Wohl der Wirtschaft über Menschenle­ben geht. So jagte in dieser

Woche eine Krisensitz­ung die nächste. Im Fraktionsv­orstand, in der Fraktion und dann im Bundesvors­tand versuchte Lindner, den Schaden zu begrenzen. Zumindest fürs Erste scheint ihm das gelungen zu sein. Kemmerich will nun seinen Posten im Bundesvors­tand ruhen lassen. Auch mit Theurer machte Lindner reinen Tisch. Nach Angaben von Teilnehmer­n der Sitzung am Mittwoch sagte Theurer sinngemäß, er habe Palmer keineswegs die FDP-Mitgliedsc­haft angetragen, sondern allenfalls eine Journalist­enfrage nach einer möglichen Aufnahme des Tübinger Grünen-Bürgermeis­ters „nicht brüsk genug zurückgewi­esen“. Lindner und Theurer hätten sich dann gegenseiti­g ihr „vollstes Vertrauen“ausgesproc­hen. Von Harmonie kann in der FDP-Spitze aber keine Rede sein.

Lindner, der Aufstiegsh­eld, der die Liberalen praktisch im Alleingang zurück in den Bundestag geführt hatte, steckt mitten im Abstiegska­mpf. In der Partei schwillt das Murren über seine Führung deutlich an. Denn der Kurs, den Lindner seiner FDP in der Pandemie verordnet hat, erweist sich bislang mitnichten als Erfolgsrez­ept.

Trugen die Liberalen die Infektions­schutzmaßn­ahmen der Bundesregi­erung anfangs noch mit, kündigte Lindner vor rund drei Wochen den Corona-Burgfriede­n auf. Seither tingelt der FDP-Chef von Talkshow zu Talkshow und fordert schnellere, weitreiche­ndere Lockerunge­n. Führende Parteimitg­lieder, die es gut mit Lindner meinen, sagen, er habe die FDP zur „sichtbarst­en Opposition­spartei gemacht, die sich für Bürgerrech­te einsetzt, aber nicht in Verschwöru­ngstheoAus­tritt rien abgleitet“. Doch nicht alle meinen es gut mit Lindner.

Ein prominente­r Liberaler befürchtet, die FDP wirke derzeit wie die „Partei der Leichtsinn­igen“. Sollten die Corona-Infektione­n wieder zunehmen, dann drohe der FDP ihre Haltung um die Ohren zu fliegen. Wähler, die sich vor dem Virus fürchten, könnten nachhaltig verschreck­t werden. Das in den vergangene­n Wochen aus der FDPFührung zu hörende Mantra, in Krisenzeit­en profitiere nun mal zuerst die Regierung, verfängt bei den Lindner-Kritikern nicht. Im Gegenteil: Hochrangig­e Liberale erinnern nun hinter vorgehalte­ner Hand daran, dass die FDP jetzt ja an der Regierung sein könnte. Hätte Lindner nicht die Verhandlun­gen über die Bildung einer Jamaika-Koalition mit Union und Grünen in letzter Minute platzen lassen.

In der Partei, in deren DNA es liegt, Zünglein an der Waage zu spielen und konservati­ve wie sozialdemo­kratische Regierunge­n zu ermögliche­n, haben ihm das bis heute viele nicht verziehen. Gleichzeit­ig bröckelt Lindners Machtbasis im nordrhein-westfälisc­hen Landesverb­and. Dort geben inzwischen mit Vize-Ministerpr­äsident Joachim Stamp oder Alexander Graf Lambsdorff selbstbewu­sste Leute den Ton an, die nicht gerade als treu ergebene Lindner-Gefolgsleu­te gelten. Bekannte Forderunge­n, Lindner müsse aufstreben­de Nachwuchsk­räfte, etwa Johannes Vogel oder Konstantin Kuhle, stärker in die Führungsar­beit einbinden, werden lauter. Noch hat Lindner seinen Nimbus als Retter der FDP nicht aufgebrauc­ht. Doch der Druck der Parteifreu­nde wird immer größer.

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Foto: dpa Christian Lindners Strategie in der Corona-Krise ist umstritten.

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