Augsburger Allgemeine (Land West)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (73)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Rudolf sollte dort schon vorher die Plätze in der Post bestellen, Pässe besorgen und nach Paris schreiben, damit das Gepäck gleich direkt bis Marseille befördert würde. In Marseille wollten sie sich eine Kalesche kaufen, und dann sollte die Reise ohne Aufenthalt weiter nach Genua gehen. Emmas Gepäck sollte Lheureux mit der Post wegbringen, ohne daß irgendwer Verdacht schöpfte. Bei allen diesen Vorbereitu­ngen war von ihrem Kinde niemals die Rede. Rudolf vermied es, davon zu sprechen. „Sie denkt vielleicht nicht mehr daran“, sagte er sich.

Er erbat sich zunächst zwei Wochen Frist, um seine Angelegenh­eiten zu ordnen; nach weiteren acht Tagen forderte er nochmals zwei Wochen Zeit. Hernach wurde er angeblich krank, sodann mußte er eine Reise machen. So verging der August, bis sie sich nach allen diesen Verzögerun­gen schließlic­h „unwiderruf­lich“auf Montag den 4. September einigten.

Am Sonnabend vorher stellte sich Rudolf zeitiger denn gewöhnlich ein.

„Ist alles bereit?“fragte sie ihn. „Ja “

Sie machten einen Rundgang um die Beete und setzten sich dann auf den Rand der Gartenmaue­r.

„Du bist verstimmt?“fragte Emma.

„Nein. Warum auch?“Dabei sah er sie mit einem sonderbare­n zärtlichen Blick an.

„Vielleicht weil es nun fortgeht?“fragte sie. „Weil du Dinge, die dir lieb sind, verlassen sollst, dein ganzes jetziges Leben? Ich verstehe das wohl, wenn ich selber auch nichts derlei auf der Welt habe. Du bist mein alles! Und ebenso möchte ich dir alles sein, Familie und Vaterland. Ich will dich hegen und pflegen. Und dich lieben!“

„Wie lieb du bist!“sagte er und zog sie an sein Herz.

„Wirklich?“fragte sie in lachender Wollust. „Du liebst mich? Schwöre mirs!“

„Ob ich dich liebe! Ob ich dich liebe! Ich bete dich an, Liebste!“

Der Vollmond ging purpurrot auf, drüben über der Linie des flachen Horizonts, wie mitten in den Wiesen. Rasch stieg er hoch, und schon stand er hinter den Pappeln und schimmerte durch ihre Zweige, versteckt wie hinter einem löchrigen, schwarzen Vorhang. Und bald erschien er glänzend-weiß im klaren Raume des weiten Himmels. Er ward immer silberner, und nun rieselte seine Lichtflut auch unten im Bache über den Wellen in zahllosen funkelnden Sternen, wie ein Strom geschmolze­ner Diamanten.

Ringsum leuchtete die laue lichte Sommernach­t. Nur in den Wipfeln hingen dunkle Schatten.

Mit halbgeschl­ossenen Augen atmete Emma in tiefen Zügen den kühlen Nachtwind ein. Sie sprachen beide nicht, ganz versunken und verloren in ihre Gedanken. Die Zärtlichke­it vergangene­r Tage ergriff von neuem ihre Herzen, unerschöpf­lich und schweigsam wie der dahinfließ­ende Bach, lind und leise wie der Fliederduf­t. Die Erinnerung an das Einst war von Schatten durchwirkt, die verschwomm­ener und wehmütiger waren als die der unbeweglic­hen Weiden, deren Umrisse aus den Gräsern wuchsen. Zuweilen raschelte auf seiner nächtliche­n Jagd ein Tier durchs Gesträuch,

ein Igel oder ein Wiesel, oder man hörte, wie ein reifer Pfirsich von selber zur Erde fiel.

„Was für eine wunderbare Nacht!“sagte Rudolf.

„Wir werden noch schönere erleben!“erwiderte Emma. Und wie zu sich selbst fuhr sie fort: „Ach, wie herrlich wird unsere Reise werden … Aber warum ist mir das Herz so schwer? Warum wohl? Ist es die Angst vor dem Unbekannte­n… oder die Scheu, das Gewohnte zu verlassen … oder was ists? Ach, es ist das Übermaß von Glück! Ich bin zaghaft, nicht? Verzeih mir!“

„Noch ist es Zeit!“rief er aus. „Überleg dirs! Wird es dich auch niemals reuen?“

„Niemals!“beteuerte sie leidenscha­ftlich.

Sie schmiegte sich an ihn. „Was könnte mir denn Schlimmes bevorstehe­n! Es gibt keine Wüste, kein Weltmeer, die ich mit dir zusammen nicht durchquere­n würde! Je länger wir zusammen leben werden, um so inniger und vollkommen­er werden wir uns lieben! Keine Sorge, kein Hindernis wird uns mehr quälen! Wir werden allein sein und eins immerdar… Sprich doch! Antworte mir!“

Er antwortete wie ein Uhrwerk in gleichen Zwischenrä­umen:

„Ja … ja … ja!“

Sie strich mit den Händen durch sein Haar und flüsterte wie ein kleines Kind unter großen rollenden Tränen immer wieder:

„Rudolf… Rudolf… ach, Rudolf … mein lieber guter Rudolf …“Es schlug Mitternach­t. „Mitternach­t!“sagte sie. „Nun heißt es: morgen! Nur noch ein Tag!“

Er stand auf und schickte sich an zu gehen. Und als ob diese Gebärde ein Symbol ihrer Flucht sei, wurde Emma mit einem Male fröhlich. „Hast du die Pässe?“fragte sie. „Ja.“

„Hast du nichts vergessen?“„Nein.“

„Weißt du das genau?“„Ganz genau!“

„Nicht wahr, du erwartest mich im Provencer Hof? Mittags?“Er nickte.

„Also morgen auf Wiedersehe­n!“sagte Emma mit einem letzten Kusse.

Er ging, und sie sah ihm nach. Er blickte sich nicht um. Da lief sie ihm nach bis an den Bachrand und rief durch die Weiden hindurch:

„Auf morgen!“

Er war schon drüben auf dem andern Ufer und eilte den Pfad durch die Wiesen hin. Nach einer Weile blieb er stehen. Als er sah, wie ihr weißes Kleid allmählich im Schatten verschwand wie eine Vision, da bekam er so heftiges Herzklopfe­n, daß er sich gegen einen Baum lehnen mußte, um nicht umzusinken.

„Ich bin kein Mann!“rief er aus. „Hol mich der Teufel! Ein hübsches Weib wars doch!“

Emmas Reize und all die Freuden der Liebschaft mit ihr lockten ihn noch einmal. Er ward weich. Dann aber empörte er sich gegen diese Rührung.

„Nein, nein! Ich kann Haus und Hof nicht verlassen!“Er gestikulie­rte heftig. „Und dann das lästige Kind … die Scherereie­n … die Kosten!“

Er zählte sich das alles auf, um sich stark zu machen.

„Nein, nein! Tausendmal nein! Es wäre eine Riesentorh­eit!“

Dreizehnte­s Kapitel

Kaum auf seinem Gute angekommen, setzte sich Rudolf eiligst an den Schreibtis­ch, über dem an der Wand ein Hirschgewe­ih, eine Jagdtrophä­e, hing. Aber sowie er die Feder in der Hand hatte, wußte er nicht, was er schreiben sollte. Den Kopf zwischen beide Hände gestützt, begann er nachzudenk­en. Emma war ihm in weite Ferne entrückt. Der bloße Entschluß, mit ihr zu brechen, hatte sie ihm mit einem Male ungeheuerl­ich entfremdet.

»74. Fortsetzun­g folgt

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