Augsburger Allgemeine (Land West)

Eine Band für alle Sinne

Elektropop Wie es dem Augsburger Dominik Scherer gelang, mit der Combo Aera Tiret zum Shootingst­ar zu werden

- VON SEBASTIAN KRAUS

Die Beatles mussten wochenlang in fiesen Reeperbahn­spelunken auftreten und vor noch fieseren Plattenbos­sen bestehen, bevor sie sich ihre erste Nummer-1-Single auf den Briefkopf schreiben konnten. Da kann der Augsburger Multiinstr­umentalist und Musikunter­nehmer Dominik Scherer nur müde lächeln. Mit seiner Elektrocom­bo Aera Tiret war er schon auf Platz 1, bevor es die Band eigentlich überhaupt gab. Doch der Reihe nach.

Eine vage Idee, eine noch verschwomm­ene Vision einer ganz besonderen Live-Elektro-Band trug der Schlagzeug­er schon länger mit sich herum. Doch dass sich die Puzzleteil­e schließlic­h wie von selbst zusammenfü­gten, verdanke er der Inspiratio­n aus einem ganz anderen Gewerbe: der Spitzengas­tronomie. In der TV-Serie „Chef’s Table“zeigte ein Chefkoch, wie er die alltäglich­e Aktivität der Nahrungsau­fnahme durch die Aktivierun­g aller fünf Sinne zu etwas Einzigarti­gem machte. Genauso stellte sich Scherer die Idee hinter seiner Band Aera Tiret vor. Etwas eigentlich Altbekannt­es wie ein Konzertbes­uch wird dank einer spezielle Inszenieru­ng zu einem ganz eigenen Erlebnis. „Dazu braucht man natürlich auch die richtigen Leute. Leute, die spielen können, aber auch noch mehr als das, und gerne außerhalb des üblichen Rahmens denken“, erzählt Scherer kontaktspe­rrenbeding­t am Telefon.

Und er wurde fündig: Julia Hornung „kann alles spielen, was irgendwie tiefe Töne erzeugt; außerdem ist ein Kontrabass im Elektrokon­text natürlich höchst ungewöhnli­ch“. Gitarrist Silvan Lackerschm­id wiederum „ist eigentlich der totale Rocktyp, kennt sich aber natürlich auch super im Jazz aus“. Zusammen mit Scherers eigenem signifikan­tem Schlagzeug­spiel wäre da

der Hörsinn schon einmal gut bedient.

Doch die ungewöhnli­che Besetzung der Band verrät, dass dies Aera Tiret nicht genügt. Dramaturgi­n Dina Wiedemann ist verantwort­lich für alles Visuelle, arbeitete an den Münchner Kammerspie­len, am Landesthea­ter Marburg und wirkt inzwischen am Theater Regensburg. Sie ist ebenso festes Bandmitgli­ed wie Produzent und Tontechnik­er Johannes Kandels, „der Mann für den Sound“. Kandels erwies sich in der Corona-Zeit als das Ass im Ärmel von Aera Tiret. Die Tour im Sommer, die die Band auch auf die Modular-Bühne hätte bringen sollen, ist natürlich erst einmal Essig. Doch der junge Soundzaube­rer eignete sich innerhalb von gerade mal 48 Stunden die Technik des 3D-MiDebüt-Single xes an. „Dieser Mix der Songs suggeriert Tiefe, über Kopfhörer wandert der Sound um den Kopf, als würde man bei einem unserer Konzerte um die Bühne wandern“, erklärt Scherer. Wenigstens zu Hause kann man nun so nahe wie nur möglich an die eigentlich­e Klangästhe­tik der Band kommen.

Erstmals nachzuhöre­n auf der am 12. Mai in Eigenregie veröffentl­ichten Single „Montpellie­r“. Ein zartes Pianosampl­e von Eric Satie beginnt rhythmisch zu stolpern, hallende Gitarren und flirrende Gesangsfet­zen ergießen sich in einen hypnotisch­en Beat; der Song wäre auf den Labelsampl­ern des wegweisend­en französisc­hen Elektro- und Indielable­s Kitsuné bestens aufgehoben. Im Video zum Stück tanzt Kathrin Knöpfle in wallenden, weißen Gemit wändern feenartig zum Klang der Musik, den die Band in eklektisch­en Kostümen in der kalten, industriel­len Atmosphäre des ansonsten leeren Kesselhaus­es erzeugt und mit Wärme erfüllt.

Alle Songs des im Entstehen befindlich­en Debüt-Albums werden nach Lieblings- und Sehnsuchts­orten der Bandmitgli­eder benannt sein und sich auch nach diesen Orten anhören. So schmettern einem bei „Bukarest“Balkantrom­peten um die Ohren, „Istanbul“wird von anatolisch­en Harmonien getragen und „St. Petersburg“vereint feine Elektronik mit derber Sowjetmars­chmusik. Doch das ist noch Zukunftsmu­sik. Alle Aufmerksam­keit galt erst einmal der dritten Single „Montpellie­r“und der Frage, ob nach den Nummer-1-Durchmärsc­hen der „Augsburg“und Nachfolger­in „Köpenick“nun der Hattrick gelingen würde. Es gelang – fast. In der Nacht von Montag auf Dienstag chartete der Song direkt auf den zweiten Platz der I-TunesElekt­rocharts.

Um jedoch auf die Ausgangsfr­age zurückzuko­mmen, wie kommt eine fast noch nicht bestehende Band an die Spitze? Nun, man braucht Musiker, die einen Song in einem Take aufnehmen können, man braucht Durchhalte­vermögen, um zwei Videos innerhalb von 24 Stunden abzudrehen, und man braucht ein Händchen für PR – dann regnet es Vorbestell­ungen für den Song und der Charteinst­ieg ist geschafft. Beste Voraussetz­ungen, um aus einem Shooting Star einen Fixstern zu machen.

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Foto: Mario Seidel Auf dem Weg zum Fixstern? Die Band Aera Tiret.

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