Augsburger Allgemeine (Land West)
Eine Band für alle Sinne
Elektropop Wie es dem Augsburger Dominik Scherer gelang, mit der Combo Aera Tiret zum Shootingstar zu werden
Die Beatles mussten wochenlang in fiesen Reeperbahnspelunken auftreten und vor noch fieseren Plattenbossen bestehen, bevor sie sich ihre erste Nummer-1-Single auf den Briefkopf schreiben konnten. Da kann der Augsburger Multiinstrumentalist und Musikunternehmer Dominik Scherer nur müde lächeln. Mit seiner Elektrocombo Aera Tiret war er schon auf Platz 1, bevor es die Band eigentlich überhaupt gab. Doch der Reihe nach.
Eine vage Idee, eine noch verschwommene Vision einer ganz besonderen Live-Elektro-Band trug der Schlagzeuger schon länger mit sich herum. Doch dass sich die Puzzleteile schließlich wie von selbst zusammenfügten, verdanke er der Inspiration aus einem ganz anderen Gewerbe: der Spitzengastronomie. In der TV-Serie „Chef’s Table“zeigte ein Chefkoch, wie er die alltägliche Aktivität der Nahrungsaufnahme durch die Aktivierung aller fünf Sinne zu etwas Einzigartigem machte. Genauso stellte sich Scherer die Idee hinter seiner Band Aera Tiret vor. Etwas eigentlich Altbekanntes wie ein Konzertbesuch wird dank einer spezielle Inszenierung zu einem ganz eigenen Erlebnis. „Dazu braucht man natürlich auch die richtigen Leute. Leute, die spielen können, aber auch noch mehr als das, und gerne außerhalb des üblichen Rahmens denken“, erzählt Scherer kontaktsperrenbedingt am Telefon.
Und er wurde fündig: Julia Hornung „kann alles spielen, was irgendwie tiefe Töne erzeugt; außerdem ist ein Kontrabass im Elektrokontext natürlich höchst ungewöhnlich“. Gitarrist Silvan Lackerschmid wiederum „ist eigentlich der totale Rocktyp, kennt sich aber natürlich auch super im Jazz aus“. Zusammen mit Scherers eigenem signifikantem Schlagzeugspiel wäre da
der Hörsinn schon einmal gut bedient.
Doch die ungewöhnliche Besetzung der Band verrät, dass dies Aera Tiret nicht genügt. Dramaturgin Dina Wiedemann ist verantwortlich für alles Visuelle, arbeitete an den Münchner Kammerspielen, am Landestheater Marburg und wirkt inzwischen am Theater Regensburg. Sie ist ebenso festes Bandmitglied wie Produzent und Tontechniker Johannes Kandels, „der Mann für den Sound“. Kandels erwies sich in der Corona-Zeit als das Ass im Ärmel von Aera Tiret. Die Tour im Sommer, die die Band auch auf die Modular-Bühne hätte bringen sollen, ist natürlich erst einmal Essig. Doch der junge Soundzauberer eignete sich innerhalb von gerade mal 48 Stunden die Technik des 3D-MiDebüt-Single xes an. „Dieser Mix der Songs suggeriert Tiefe, über Kopfhörer wandert der Sound um den Kopf, als würde man bei einem unserer Konzerte um die Bühne wandern“, erklärt Scherer. Wenigstens zu Hause kann man nun so nahe wie nur möglich an die eigentliche Klangästhetik der Band kommen.
Erstmals nachzuhören auf der am 12. Mai in Eigenregie veröffentlichten Single „Montpellier“. Ein zartes Pianosample von Eric Satie beginnt rhythmisch zu stolpern, hallende Gitarren und flirrende Gesangsfetzen ergießen sich in einen hypnotischen Beat; der Song wäre auf den Labelsamplern des wegweisenden französischen Elektro- und Indielables Kitsuné bestens aufgehoben. Im Video zum Stück tanzt Kathrin Knöpfle in wallenden, weißen Gemit wändern feenartig zum Klang der Musik, den die Band in eklektischen Kostümen in der kalten, industriellen Atmosphäre des ansonsten leeren Kesselhauses erzeugt und mit Wärme erfüllt.
Alle Songs des im Entstehen befindlichen Debüt-Albums werden nach Lieblings- und Sehnsuchtsorten der Bandmitglieder benannt sein und sich auch nach diesen Orten anhören. So schmettern einem bei „Bukarest“Balkantrompeten um die Ohren, „Istanbul“wird von anatolischen Harmonien getragen und „St. Petersburg“vereint feine Elektronik mit derber Sowjetmarschmusik. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Alle Aufmerksamkeit galt erst einmal der dritten Single „Montpellier“und der Frage, ob nach den Nummer-1-Durchmärschen der „Augsburg“und Nachfolgerin „Köpenick“nun der Hattrick gelingen würde. Es gelang – fast. In der Nacht von Montag auf Dienstag chartete der Song direkt auf den zweiten Platz der I-TunesElektrocharts.
Um jedoch auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, wie kommt eine fast noch nicht bestehende Band an die Spitze? Nun, man braucht Musiker, die einen Song in einem Take aufnehmen können, man braucht Durchhaltevermögen, um zwei Videos innerhalb von 24 Stunden abzudrehen, und man braucht ein Händchen für PR – dann regnet es Vorbestellungen für den Song und der Charteinstieg ist geschafft. Beste Voraussetzungen, um aus einem Shooting Star einen Fixstern zu machen.