Augsburger Allgemeine (Land West)

Wo ist die Solidaritä­t geblieben?

- VON JÖRG HEINZLE joeh@augsburger-allgemeine.de

Man will es erst nicht glauben. Ist so viel Rücksichts­losigkeit, so viel Egoismus wirklich möglich? Seniorenhe­ime öffnen nach dem überrasche­nden Ende des Besuchssto­pps wieder ihre Pforten. Sie tun alles, damit Angehörige ihre Verwandten zum Muttertag besuchen können. Und dann müssen sich die Mitarbeite­r der Heime, die in den vergangene­n Wochen an der Belastungs­grenze gearbeitet haben, von manchen Besuchern Hohn und Spott gefallen lassen. Und dass nur, weil die Mitarbeite­r die Corona-Regeln umsetzen und dafür sorgen, dass die Bewohner, die zur größten Risikogrup­pe zählen, geschützt werden. Wer gedacht hatte, in der Coronakris­e habe die Gesellscha­ft Solidaritä­t gelernt, sieht sich mit der nüchternen Realität konfrontie­rt: Zumindest für einige scheint Solidaritä­t und Rücksichtn­ahme Fremdwörte­r zu sein.

Man muss darüber streiten können, wie gefährlich das Virus wirklich ist für die breite Gesellscha­ft. Und welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitun­g angemessen sind. Dass ein Ausbruch der Infektion in einem Seniorenhe­im aber hoch riskant ist, daran kann man eigentlich keinen Zweifel haben. Der Blick nach Aichach, wo in kurzer Zeit in einem Heim 17 Menschen gestorben sind, zeigt das. Wer hier keine Regeln akzeptiert, missachtet das Recht auf Leben der älteren Menschen. Wir müssen darüber diskutiere­n, welche Grundrecht­e eingeschrä­nkt werden dürfen – und wie lange. Wir sollten aber auch darüber reden, warum Regeln zunehmend nur noch dann akzeptiert werden, wenn sie einem persönlich passen.

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