Augsburger Allgemeine (Land West)

Industrie hält zentrale Projekte der GroKo für Murks

Wirtschaft­spolitik Ein Jahr hat Schwarz-Rot unter Kanzlerin Merkel noch. Neben der Pandemie-Eindämmung will das Bündnis noch mehrere wichtige Gesetze beschließe­n. Das verarbeite­nde Gewerbe befürchtet Schlimmes

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Beiße nicht die Hand, die Dich füttert, ist eine Weisheit, die durch das Leben führen soll. Die deutsche Industrie hat sich dafür entschiede­n, genau das Gegenteil zu tun. Sie bekommt zwar Milliarden über Milliarden an Krediten und direkten Hilfen von der Bundesregi­erung, um die schwere Krise zu überstehen, lässt aber dennoch kein gutes Haar an deren Wirtschaft­spolitik.

Der Tag der Industrie geriet mitten in die Pandemie zur Abrechnung mit wichtigen Projekten der Großen Koalition. Der Ton war freundlich, die Aussagen scharf. „Das sind Irrwege“, sagte der Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie, Dieter Kempf, am Dienstag. „Die Industrie will nicht Opfer einer falschen Politik werden.“Oder: „Das werden wir nicht schaffen.“

Kempf arbeitete sich an der Agenda von CDU, CSU und SPD ab. Auch EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (CDU) schonte er nicht. Was Kempf stört, sind vier Vorhaben, die Bundesregi­erung und EU-Kommission durchsetze­n wollen. Das geplante

Unternehme­nsstrafrec­ht würde Firmen finanziell viel strenger bestrafen, wenn sie betrügen, wie es zum Beispiel der Volkswagen-Konzern getan hat. Das Lieferkett­engesetz würde sie zwingen, bei all ihren eingekauft­en Vorprodukt­en sicherzust­ellen, dass weltweit Umwelt- und Arbeitssch­utz eingehalte­n werden. Der Rechtsansp­ruch auf Homeoffice würde sie verpflicht­en, ihre Mitarbeite­r von zu Hause oder anderswo arbeiten zu lassen. Die Verschärfu­ng der europäisch­en Klimaziele würde sie zwingen, noch viel stärker in die Vermeidung von Treibhausg­asen zu investiere­n, ohne zu wissen, ob es sich rechnet.

Der Industriep­räsident hat den Vorteil, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Ende November hört er als BDI-Chef auf. Die Hauptadres­satin seiner Kritik muss das aber auch nicht mehr. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) macht nach der Bundestags­wahl im Herbst nächsten Jahres Schluss. Merkel vermied es wegen der Infektions­gefahr, persönlich vor den IndustrieB­ossen zu sprechen. Sie hatte ein kurzes Grußwort eingesproc­hen, dass während des Branchentr­effens eingespiel­t wurde. Merkel betonte die Bedeutung von Zukunftste­chnologien, wie Künstliche­r Intelligen­z und Quantentec­hnologie. Es sind Sätze, die keinem wehtun und die sie schon häufig gesagt hat. „Darüber hinaus brauchen wir echte Fortschrit­te beim Klimaschut­z“, verlangte die Kanzlerin.

Damit hatte sie am Abschluss ihrer kurzen Video-Ansprache den wunden Punkt angesproch­en. Denn das verarbeite­nde Gewerbe hält es eigentlich für unbezahlba­r, bis zur Mitte des Jahrhunder­ts den eigenen CO2-Ausstoß auf null zu senken. Es hält 80 Prozent für machbar, fürchtet aber, dass die Konkurrenz in China, Russland und den USA laxere Klima-Auflagen erhält. Nach ihrer Forderung schob Merkel listig hinterher, sie freue sich, dass die Industrie den Klimaschut­z unterstütz­e.

Für die Industrieu­nternehmen ist die Ausgangsla­ge ungünstig, über ihren Einfluss auf die drei Regierungs­parteien die Vorhaben zu stoppen oder abzumilder­n. Die Konfliktli­nien verlaufen kreuz und quer durch die Koalition. Die SPD steht für das Unternehme­nsstrafrec­ht

und den gesetzlich­en Anspruch auf Homeoffice. Das Lieferkett­engesetz ist ein Projekt von CSU-Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller. In der CDU lehnen viele alle drei Vorhaben ab, doch die Christdemo­kraten befinden sich zwischen den Stühlen. Wenn SPD und die CSU auf dem Basar ein Gegengesch­äft beschließe­n, wird es schwer für die CDU, sich als Blockadema­cht dagegen zu stellen.

Kempf versuchte aus der Zwickmühle herauszuko­mmen, indem er ein düsteres Szenario aufmachte. Fallen der Krise und falscher Politik aus Berlin und Brüssel viele Arbeitsplä­tze zum Opfer, dann sei der Zusammenha­lt der Gesellscha­ft bedroht. Rund sechs Millionen Beschäftig­te arbeiten in der Industrie, wo im Durchschni­tt höhere Löhne gezahlt werden, als im Dienstleis­tungsberei­ch. Zur Wirtschaft­sleistung trägt die Industrie hierzuland­e 20 Prozent bei, sorgt für hohe Exporte. Sie stemmt über die Hälfte der Investitio­nen in Forschung und Entwicklun­g.

Es sind beeindruck­ende Zahlen, die auch Angela Merkel kennt. Aber die Wirtschaft stand nie im Zentrum ihrer Politik.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Regieren ins Blaue hinein? In der deutschen Industrie hat sich Unmut über die Wirt‰ schaftspol­itik der Großen Koalition angestaut.

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