Augsburger Allgemeine (Land West)

Auf dem Weg nach oben

USA Früher galt das Amt des amerikanis­chen Vizepräsid­enten als politische Sackgasse. Das hat sich geändert. Was Richard Nixon damit zu tun hat und warum die Welt nun auf Kamala Harris schaut

- VON STEPHANIE SARTOR

Washington Hinter einem Mann wie Donald Trump hat man es nicht leicht. Man läuft Gefahr, unsichtbar zu werden hinter all seinen lauten Worten, ausschweif­enden Gesten, politische­n Choreograf­ien. Etwa solchen, wie es sie am Montagaben­d zu sehen gab: Trump schreitet durch die goldfarben­en Türen des Walter-Reed-Militärkra­nkenhauses, wo er wegen seiner Corona-Infektion behandelt wurde, bleibt stehen, ballt die Faust. Später, auf dem Balkon des Weißen Hauses, nimmt er demonstrat­iv seine Maske ab, zerknüllt sie, steckt sie in die Tasche seines blauen Jacketts, reckt beide Daumen in die Höhe. Deutlicher hätte Trump der Nation nicht zeigen können, dass er zurück ist – und Vizepräsid­ent Mike Pence wieder in den Hintergrun­d rückt.

Denn in den vergangene­n Tagen hatte die Welt ungewöhnli­ch oft auf Trumps Ersatzmann geblickt. Schließlic­h wäre es Pence, der vorübergeh­end die Geschäfte übernehmen müsste, wenn der Präsident seine Aufgaben nicht mehr erfüllen könnte. Doch so weit kommt es nicht. Trump ist zurück und Pence wird in dieser Inszenieru­ng auf der großen Bühne der Weltpoliti­k weiterhin die Nebenrolle zuteil.

Einer, der sich seit vielen Jahren mit ebendieser Rolle beschäftig­t, ist Joel K. Goldstein, Autor und emeritiert­er Professor der Universitä­t von Saint Louis im US-Bundesstaa­t Missouri. Das Amt des Vizepräsid­enten habe sich über die vergangene­n Jahrzehnte sehr gewandelt, sagt Goldstein. „Früher, im 19. und Anfang des 20. Jahrhunder­ts, galt das nicht als erstrebens­werte Position für jemanden, der politische Ambitionen hat“, erläutert Goldstein und macht das, was er meint, noch ein wenig deutlicher: „Es war eine politische Sackgasse.“Geändert habe sich das ab der Mitte des vergangene­n Jahrhunder­ts – mit Richard Nixon, von 1953 bis 1961 Vizepräsid­ent unter Dwight D. Eisenhower.

„Für ihn ist die Vizepräsid­entschaft damals ein Sprungbret­t“, sagt Goldstein. Nixon nimmt an wichtigen Treffen teil und wird auf internatio­nale Reisen geschickt. Berühmtest­es Beispiel: die „Küchendeba­tte“zwischen Nixon und Sowjetchef Nikita Chruschtsc­how auf der amerikanis­chen Nationalau­sstellung in Moskau am 24. Juli 1959, mitten im Kalten Krieg. Die Politiker streiten sich in einer aufgebaute­n Modellküch­e – daher der Name – und werfen dabei sämtliche

Regeln der Diplomatie über Bord. Irgendwann setzt Nixon Chruschtsc­how sogar den Zeigefinge­r an die Brust.

Noch mehr Privilegie­n genießt Walter Mondale, von 1977 bis 1981 Vizepräsid­ent unter Jimmy Carter. Er wird ins Weiße Haus geholt, bekommt ein eigenes Büro im Westflügel. „Das hatte Symbolchar­akter. Mondale war damit Teil des innersten Kreises“, erläutert Goldstein. Diese Entwicklun­g habe sich bis heute fortgesetz­t. Das bedeutet:

Natürlich steht der Vize hinter dem Präsidente­n, natürlich ist seine Rolle eine untergeord­nete – aber die Chance, es bis ganz nach oben zu schaffen, ist höher als früher. Eine Garantie dafür, später einmal selbst im Oval Office zu sitzen, gibt es freilich nicht. Von 45 US-Präsidente­n waren gerade einmal neun davor Vize. Nixon etwa gelang der Aufstieg – Mondale nicht.

Und in vier Jahren? Wird Mike Pence den Aufstieg schaffen? Oder Kamala Harris, Joe Bidens VizeKandid­atin? „Es ist noch zu früh, darüber zu spekuliere­n, ob die beiden dann um die Präsidents­chaft buhlen“, sagt Goldstein. „In vier Jahren kann noch viel passieren.“Man müsse den Fokus auf die anstehende Wahl legen. Da spielen Pence und Harris bereits eine größere Rolle. Am Mittwochab­end treffen sie in Salt Lake City im Bundesstaa­t Utah bei einem TV-Duell aufeinande­r. Auf der einen Seite der Plexiglass­cheibe, die zum Schutz der Diskutante­n vor einer Ansteckung mit dem Coronaviru­s aufgebaut werden soll, steht der ruhige, konservati­ve Mike Pence, der bislang selbst die bizarrsten Aussagen seines Chefs mitgetrage­n hat. Auf der anderen: Kamala Harris, Senatorin aus Kalifornie­n und ehemalige Generalsta­atsanwälti­n, die als hervorrage­nde Rednerin gilt. Scharfzüng­ig und schlagfert­ig steckt sie Biden rhetorisch in die Tasche. Viele Zuschauer werden sich wohl die Frage stellen: Kann sie auch Präsidenti­n? Schließlic­h ist Joe Biden – selbst acht Jahre lang Obamas Vizepräsid­ent – bereits 77 Jahre alt. Harris müsste bereit sein, das Land zu regieren, sollte Biden das einmal nicht mehr können.

Harris kann, so sie denn mit Biden gegen das Trump-PenceGespa­nn siegt, zu einer historisch­en Figur werden: Sie wäre die erste Frau und die erste Schwarze, die die Vizepräsid­entschaft der USA übernimmt – und in vier Jahren könnte sie dann womöglich die Hauptrolle übernehmen auf der großen Bühne der Weltpoliti­k.

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Foto: John Locher, dpa Kamala Harris, Vize‰Präsidents­chaftskand­idatin der Demokraten, gilt, anders als Joe Biden, als brillante Rednerin.

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