Augsburger Allgemeine (Land West)
Die ewige Trockenzeit
Suchthilfe Alkoholiker ist man sein Leben lang, auch wenn man schon seit Jahrzehnten aufgehört hat zu trinken. Wie die Mitglieder der Kreuzbund-Selbsthilfegruppe in Stadtbergen den Betroffenen helfen. Ein Ehepaar hat sich dort gefunden
Alkoholiker ist man sein Leben lang, auch wenn man schon seit Jahrzehnten aufgehört hat zu trinken. Wie die Kreuzbund-Selbsthilfegruppe hilft.
Stadtbergen Ein bunter Haufen hat sich neben der Sporthalle in Stadtbergen auf dem Rasen eingefunden. Von einem Herrn mit grauen, fein gekämmten Haaren und einem Hemd bis hin zu einem Herrn mit langen Haaren und dem T-Shirt einer Metalband. Sie alle haben aber eines gemeinsam: Sie sind Alkoholiker. Die Kreuzbund-Selbsthilfegruppe für Suchtkranke ist ein wöchentliches Treffen von Alkoholikern.
Diese Krankheit wurde in letzter Zeit häufiger: Im Zuge der CoronaPandemie ist der Alkoholkonsum in Deutschland deutlich gestiegen. Experten sehen das als einen Hinweis für eine wachsende Zahl von Alkoholikern. Die Selbsthilfegruppe Stadtbergen hat einen Kreis gebildet. Die meisten sitzen auf Klappstühlen, einige auf Wasserkästen, einer auf seinem Elektroroller. Ein Mitglied hat es diese Woche nicht geschafft. Er sei im Krankenhaus, heißt es. „Seine SMS-Antworten waren sehr einsilbig“, sagt einer besorgt. Viele in der Selbsthilfegruppe haben bereits seit Jahrzehnten aufgehört zu trinken, einige erst seit ein paar Monaten. Trotzdem fürchten sie, die Kontrolle zu verlieren, wenn sie wieder Alkohol zu sich nehmen.
Geleitet wird die Gruppe vom 65-jährigen Helmut. Er organisiert die Treffen, moderiert sie und ist der Ansprechpartner für Neulinge. Heute geht es mit einer Vorstellungsrunde los, sagt er den anderen. Seit 26 Jahren ist Helmut mittlerweile trocken. Davor lag er auf der Couch und fühlte sich nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als zu trinken. „Das hätte in den Tod geführt, wenn ich weitergemacht hätte“, sagt er. Kurz zuvor hatte er sich von seiner ersten Frau getrennt. Er wurde zur Entgiftung in ein Bezirkskrankenhaus eingeliefert. Bei dieser Prozedur wird der Patient erst mal wieder auf null Promille heruntergebracht. „Wie durch die Hölle gehen, war das“, sagt er. Er
sich übergeben, war nervös und schwitzte, „dass das Wasser mir in Bächen runterlief“. Mit Medikamenten wurde sein Körper vom Zusammenbruch abgehalten. Seit er die Therapie abgeschlossen hat, ist die Gruppe für ihn eine Art Ersatz. Sie gibt ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein, und Halt. Als Alkoholiker sieht er sich aber noch immer: „Ohne die Gruppe wäre ich gefähr
det, einen Rückfall zu erleben“, sagt er.
Geheiratet hat er auch wieder: Seine Frau Katharina ist auch Mitglied der Gruppe. Sie spricht den anderen Mitgliedern Mut zu und sagt ihnen häufig, dass ihre Erfahrungen ganz normal seien. Die 64-Jährige trinkt bereits seit 17 Jahren nicht mehr. Mit einem Cognac nach Feierabend fing es an. Irgendmusste
wann begann Katharina, ihn aus dem Wasserglas einzunehmen, bis sie bei einer täglichen Flasche Wein angelangt war. Auf der Arbeit hat sie nie getrunken, weil sie sich keinen Fehler erlauben wollte. Als sie sich nach der Arbeit im Supermarkt mit Alkohol eindeckte, hatte sie Probleme, das Geld aus dem Portemonnaie zu fischen, weil sie zu sehr zitterte. Aus ihrem Dorf musste sie wegziehen, weil ihr das Stigma nach ihrer Therapie zu viel wurde. Die Nachricht, dass sie sich „trockenlegen“ließ, sprach sich herum. Menschen, mit denen sie aufgewachsen war, wechselten die Straßenseite und begannen zu tuscheln, wenn sie ihnen begegnete. Mittlerweile verheimlicht sie ihren Alkoholismus nicht mehr.
Ludwig notiert sich die Namen von Neulingen auf einem Zettel. Er ist seit 17 oder 18 Jahren trocken. Genau weiß er es nicht mehr. Eine Flasche Cognac pro Tag trank er zu Hochzeiten. Auch morgens und in der Mittagspause. Auf der Arbeit wurde er mehrmals von seinem Chef heimgeschickt, obwohl er als „Mädchen für alles“in der Firma unverzichtbar war. Eines Tages hörte er einfach auf zu trinken: „Ein Selbstversuch“, sagt er, „und ein gefährlicher.“Er bekam Halluzinationen und hörte Stimmen. Da wusste er, dass er Hilfe brauchte. Wenn er den Drang zu trinken verspürte, fuhr er Fahrrad, um sich abzulenken. Er trat so lange und so schnell in die Pedale, bis ihm „die Zunge aus dem Hals hing“. Nach zwanzig Minuten dachte er dann nicht mehr an Alkohol. Die Gespräche in der Selbsthilfegruppe drehen sich nicht nur um Alkohol, sondern auch um Alltäglichkeiten, Arbeit, Kinder, Beziehungen. Das sei ihm besonders wichtig, sagt er. Er sehe sich als alter Hase, der neuen Gruppenmitgliedern Tipps geben könne. Mittlerweile hat der Treffpunkt der Gruppe sich geändert: Man trifft sich mittlerweile in der Friedenskirche. (Um die Privatsphäre der Beteiligten zu schützen, wurden alle Namen geändert und einige Details verfremdet.)
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Teilnahme: Wer bei der Kreuzbund Selbsthilfegruppe mitmachen will, kann sich unter der Telefonnummer 0821/81069261 anmelden. Für wen der Weg nach Stadtbergen zu weit ist, der kann sich auch bei der Kontaktstelle Selbsthilfegruppen unter shg.gesund heitsamt@augsburg.de melden.