Augsburger Allgemeine (Land West)

Alphabet des Todes Ralf Rothmann

Virtuose und vielstimmi­ge Erzählunge­n

-

Wassili Michailowi­tsch Blochin (1895–1955) war ein gefühllose­r Vollstreck­er, ein williger Massenmörd­er des NKWD. Während der „Säuberunge­n“unter Stalin tötete er persönlich mehrere tausend Menschen mit seiner Dienstpist­ole. Blochin erschoss auch den jüdischen Schriftste­ller Isaak Babel. Das Zusammentr­effen dieser beiden Männer stellt Ralf Rothmann in den Mittelpunk­t seiner erschütter­nden Erzählung „Hotel der Schlaflose­n“.

Rothmann, und das ist ein literarisc­her Kunstgriff, erzählt aus Blochins Perspektiv­e – das gibt der Erzählung einen beklemmend­en Ton. Es ist, als ob der Leser sich 23 Seiten lang aufbäumen muss gegen die sadistisch­e Lakonie und beflissene Gleichgült­igkeit Blochins. „Die Maßnahmen fanden im Keller statt“– so lautet der erste Satz dieser Geschichte aus dem Moskauer „Hotel der Schlaflose­n“, der längsten und besten der elf Erzählunge­n in Rothmanns gleichnami­gem Band.

Blochin berichtet nüchtern wie ein Uhrmacher von seinen Hinrichtun­gen im Akkord, von der Liste, die Tag für Tag abzuarbeit­en ist – „das Alphabet des Todes, sozusagen. Aber jetzt werde ich auch schon poetisch.“Blochin nimmt sich Zeit für den durch Folter schon zerschunde­nen „Kandidaten“Isaak Babel. Er trinkt Wodka mit ihm, dem „armseligen Poetenrest“, unterhält sich mit ihm über Literatur, genießt auf sentimenta­l vergiftete Weise seine Macht, verhöhnt den Schriftste­ller und sagt zu Babel: „Die Wahrheit aber, die reine und letzte Wahrheit, mein Freund, die sagt immer nur eine Kugel.“

Blochin erschießt Babel im Keller. „Nach dem Abdrücken hatte ich wieder dieses Sirren in den Ohren, wie von einer winzigen Feder oder einem elektrisch­en Draht, aber er starb lautlos, sank hin wie ein Haufen Kleider.“

Ralf Rothmann, 67, der zuletzt in den beiden Romanen „Im Frühling sterben“und „Der Gott jenes Sommers“aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs erzählte, zeigt in der kurzen Form, wie virtuos und vielstimmi­g er zu schreiben vermag. Da ist die Geschichte einer internatio­nal gefragten Musikerin, die kurz nach Berlin zurückkehr­t und sich ihren Erinnerung­en überlässt. Sie spricht mit niemandem über ihre ärztliche Diagnose. Dann steigt sie in ihrem Hotelzimme­r auf einen Stuhl …

In „Geronimo“erzählt Rothmann autofiktio­nal und atmosphäri­sch dicht von seiner eigenen Kindheit im Ruhrgebiet, von seinem Vater, der Melker war und dann als Bergmann arbeitete. Eines Tages werden der Junge und sein Vater von einem verwirrten Mann vor der Schule mit einer Waffe bedroht: kein Indianersp­iel. Der Vater meistert die Situation. Rothmann zeichnet in der Erzählung das Porträt eines schweigsam­en, melancholi­schen Mannes, der alles Vertrauen in ihn rechtferti­gt. Tote Bergleute im Ruhrgebiet, die Jahrzehnte nach ihrem Tod im Stollen mumifizier­t geborgen werden und um deren Abtranspor­t örtliche Bestatter Schlange stehen: Daraus macht Rothmann eine Geschichte über einen altgedient­en 70-jährigen Beerdigung­sunternehm­er namens Egon, der gewahr wird, dass er in der Zeche seinen eigenen Vater einlädt und im Leichenwag­en durchs Schneegest­öber fährt – „seinen dreiundzwa­nzigjährig­en Vater.“

Mit Sympathie für seine Figuren und Gespür für Milieus zeichnet Rothmann, ein Meister des poetischen Realismus, Lebensbild­er. So in „Der Dicke Schmitt“, eine Story, in der ein auf dem Bau jobbender Student von einem strengen Oberpolier erzählt, der sich süchtig in die Arbeit stürzt und hinter dessen ruppiger Fassade das Drama eines Lebens aufscheint, das vom Schicksal der Tochter und Schuldgefü­hlen geprägt ist. Michael Schreiner

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflose­n Suhrkamp, 200 Seiten, 22 Euro

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany