Augsburger Allgemeine (Land West)
„Jeder von uns hat eine offizielle Version seiner Biografie“
das hinausgeht. Frieden zwischen uns und unseren Nachbarn ist wie ein Traum. In den letzten 14 Jahren haben wir vier Klein-Kriege erlebt, den einen im Libanon, drei im Gazastreifen. Und die brachen ohne Vorwarnung los. Das heißt, jeder Frieden kann sich von einem Moment in einen Albtraum verwandeln. Alles, was gut und sicher wirkt, ist zweifelhaft, aber jede Bedrohung fühlt sich normal an. Die Menschen hier glauben, dass die Europäer trotz der zwei Weltkriege nicht wissen, was das Leben in Wirklichkeit ausmacht – nämlich Angst, Gefahr und Verzweiflung.
Die Figuren in „Was Nina wusste“, konfrontieren sich mit einer leidvollen Vergangenheit. Ist das ein Ausweg aus einer traumatischen Weltsicht? Grossman: Sie sehen sich die Wunde ihres Lebens ohne Schutzmechanismen an. Aber es geht nicht nur darum. Ein zentrales Thema, nicht nur in diesem Buch, ist die Art und Weise, wie sich die Protagonisten ihre eigene Geschichte erzählen. Jeder von uns hat eine offizielle Version seiner Biografie und seiner Leiden, die er anderen präsentiert, um auf diese Weise die Geneigtheit des Zuhörers zu erkaufen. Im Lauf der Jahre verfeinern wir diese Geschichte noch weiter. Aber wir sollten uns vielmehr fragen: Beschreibt uns diese Erzählung wirklich? Sind wir vielleicht Gefangene unserer eigenen offiziellen Version geworden? Vielleicht sollten wir den Blickwinkel auf die Verletzungen unserer Vergangenheit verändern. Warum haben uns andere Menschen Schmerzen zugefügt? Unsere Eltern zum Beispiel waren selbst Kinder, und ihre Eltern auch. Wenn wir also
Sie dringen sehr tief in diese Verwundungen vor, schildern detailliert das Martyrium, das eine der Hauptfiguren in einem Internierungslager erlebte. Wie schmerzhaft ist das für Sie? Grossman: Es ist nicht immer einfach. Aber ich fühle mich dazu hingezogen, das zu erfahren. Ich will das genau so erleben wie meine Protagonisten. Und ich bekomme ja dann am Schluss auch eine kathartische Erholung. Mir geht es wiederum darum, in verschiedenste Existenzen und ihre Blickwinkel einzutauchen – über die ich kein Urteil fälle. Die Geschichte ist inspiriert von den Erfahrungen meiner Freundin Eva Panic-Nahir. Ich war auch nicht immer der gleichen Meinung wie sie, aber auch über sie habe ich nie geurteilt. Wenn du eine Figur bewertest, dann kannst du sie nicht mehr getreu schildern. Du sollst deine Charaktere nie lieben oder hassen, sondern musst einfach ihnen gegenüber offen sein. Und diese Erfahrungen, die ich mit meinen Charakteren mache, die lassen sich auf Länder und Nationen übertragen.
Weil diese die offiziellen Versionen ihrer nationalen Geschichte hinterfragen sollten?
Grossman: Genau. Diese Versionen sind wie die Reiterstatuen von Königen, die auf irgendwelchen Plätzen herumstehen. Und nach einiger Zeit sollten wir einen genaueren Blick auf solche Geschichten werfen. Indem wir uns ständig als Opfer betrachten, sind wir nicht imstande, die Situation zu verändern und uns aus dieser Denkfalle zu befreien. Das Problem ist einfach, dass diese nationalen Mythen nach einiger Zeit erstarren, so wie auch unsere Identität immer starrer wird je älter wir werden. Ich lehne das für mich ab. Ich will zum Beispiel wissen, wie ein Palästinenser unseren Konflikt wahrnimmt. Wobei auch er selbst Gefangener dieser offiziellen Geschichte von Angst und Misstrauen ist. Als Autor bin ich freilich in der glücklichen Lage, dass ich mich ständig neu erschaffen kann, ich führe ein Leben der Flexibilität.