Augsburger Allgemeine (Land West)

In der Todesfabri­k herrscht ein rauer Ton

Premiere So viel Blut, Sex und Gewalt wie im „Mitmacher“von Dürrenmatt war selten auf der Sensemble-Bühne – eine mutige Inszenieru­ng

- VON STEFANIE SCHOENE

Er ist Biologe und heißt Doc (Heiko Dietz, Birgit Linner, Dörte Trauzeddel im Wechsel). Für ein Chemieunte­rnehmen hat er ein künstliche­s Virus hergestell­t, wurde reich, überhäufte seine Frau mit Schmuck und glaubte an das Märchen von der freien Wissenscha­ft, erzählt Doc, während er die Kachelwänd­e seines unterirdis­chen Labors schrubbt. Der Zuschauer sieht ihn nur schemenhaf­t, er spricht in einem mit durchsicht­igem Seidenpapi­er verkleidet­en Gitterwage­n.

In der Premiere im Sensemble glänzt „Der Mitmacher“von Friedrich Dürrenmatt mit reduzierte­n, dafür effektiven Requisiten (Regie: Philipp J. Neumann, Assistenz: Lisa Bühler) und schauspiel­erischer Hochleistu­ng: Drei Darsteller für sieben Figuren. Nicht nur für diese, auch für die etwa 50 zugelassen­en Zuschauer bedeutet das höchste Konzentrat­ion. Dafür wird man belohnt, denn meist sind bei der Rollenbese­tzung die Geschlecht­ergrenzen aufgehoben, sodass sich heitere Fremdheite­n ergeben. Heiko Dietz spielt nicht nur Cop, sondern auch die laszive Ann im lila Kleid. In der Dusche, im Bett, beim Sex.

Zu Beginn erfährt man: Doc wurde entlassen. Sein jetziger Arbeitspla­tz ist eine selbst entworfene Todesfabri­k. Mechanisch dreht er einen der mit Seidenpapi­er verkleidet­en Rollgitter­wagen mit der Öffnung zum Publikum, setzt sich auf die Kiste darin und berichtet bei einer Brotzeit von seinem sozialen und moralische­n Absturz. Wie er Boss begegnete, einem skrupellos­en Mafiachef und Spezialist­en für schmutzige Geschäfte. Für den vernichtet er jetzt in seiner Laborgruft Leichen im Minutentak­t. Alle, die sich dem Syndikat in den Weg stellen, werden von der korrupten machtbeses­senen Gang beseitigt: Staatsanwä­lte, Staatspräs­identen, Freunde, Familie. Boss (Birgit Linner) zahlt. Docs Anteil am Gewinn: 20 Prozent, Cop, der prollige skrupellos­e Polizist mit Trainingsa­nzug und Silberkett­e auf der Brust, bekommt 30 Prozent.

Eine Lastenramp­e im hinteren Teil der Bühne regelt den Zugang für die Beteiligte­n. Im Wechsel purMaschin­e, zeln Leichen, Doc, Ann, Cop und Boss aus dem Schacht. Unter der Regie des Leipzigers Philipp J. Neumann steht sie für das Komödianti­sche in dem schweren Stoff, aber auch für das Drama. Der Schacht ist Bühnenzuga­ng für die Lebenden und die Toten. Wie weit geht Doc in seinem Opportunis­mus und seiner Bequemlich­keit? Er müsste ja nicht zum Mittäter in dieser gigantisch­en Mordserie werden. Doch er macht mit, pulverisie­rt am Ende sogar seine Geliebte und seinen Sohn. Immer wieder kullern ihm die in Plastik gewickelte­n Leichen vor die Füße. Wie ein Roboter zerrt er sie zu seiner Nekrodialy­segießt ihre Asche in den Brennofen.

Die Sprache ist knapp, ungehalten, das Stück brutal inszeniert. Die vergittert­en, hohen Wäschewage­n erinnern an Hotels und Pflegeheim­e, in denen das Personal Berge von Wäsche zur Reinigung Richtung Keller rollt, hinzu kommt das Neonlicht-Ambiente wie in einer unterirdis­chen Großwäsche­rei. Nur, dass hier keine Bettbezüge, sondern Leichen gereinigt, „dialysiert“werden. Harte Kontraste zum Geschehen auf der Bühne bringen die eingespiel­ten Boogie-Songs der Andrew Sisters. Zwar hat auch Dürrenmatt sein Stück nicht konstant düster, sondern eher sarkastisc­h konzipiert, aber die Umsetzung Neumanns in Zusammenar­beit mit den Darsteller­n setzt eigene, mutige komödianti­sche Akzente, die von den Darsteller­n überzeugen­d umgesetzt werden.

Höhepunkte sind die körperlich­en Auseinande­rsetzungen, mal aus Aggression, mal aus Liebe. Wie die leidenscha­ftliche Szene, in der Birgit Linner als Doc seine Ann (Heiko Dietz) durchs Labor jagt.

Vorbei am Kühlraum mit den Leichen, drückt Linner ihren Kollegen für einen Quickie gegen die Wand eines Gitterwage­ns und bringt es schließlic­h, auf dem in hohen Tönen stöhnenden Dietz liegend, zum Orgasmus. Dass Ann die Frau von Cop ist, trägt Doc am Ende allerdings seinen eigenen Tod ein.

„Ich wählte das Stück aus, weil ich die knappe, lakonische Sprache und die extremen Charaktere mag“, erklärt Regisseur Neumann im Gespräch. Auch für die heutige Wirklichke­it habe der Stoff Relevanz. „Die beim ‚Mitmacher‘ gezeigte Macht, die offene Spaltung in oben und unten und die Verschärfu­ng der Sprache lassen sich ja vor allem in den USA beobachten“, so Neumann. Dürrenmatt kannte das Amerika der 1960er Jahre und hatte sich dessen Gesellscha­ft im „Mitmacher“fast schon im Stil eines dystopisch­en, sarkastisc­hen Zukunftsdr­amas zum Vorbild genommen.

Termine Für die Vorstellun­gen am 23., 24., 30. und 31. Oktober sowie am 6., 7., 13. und 14. November (jeweils 20.30 Uhr) gibt es noch Karten.

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Foto: Peter Fastl Birgit Linner (von links), Dörte Trauzeddel und Heiko Dietz spielen in „Der Mitma‰ cher“im Sensemble Theater gleich sieben Rollen.

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