Augsburger Allgemeine (Land West)
In der Todesfabrik herrscht ein rauer Ton
Premiere So viel Blut, Sex und Gewalt wie im „Mitmacher“von Dürrenmatt war selten auf der Sensemble-Bühne – eine mutige Inszenierung
Er ist Biologe und heißt Doc (Heiko Dietz, Birgit Linner, Dörte Trauzeddel im Wechsel). Für ein Chemieunternehmen hat er ein künstliches Virus hergestellt, wurde reich, überhäufte seine Frau mit Schmuck und glaubte an das Märchen von der freien Wissenschaft, erzählt Doc, während er die Kachelwände seines unterirdischen Labors schrubbt. Der Zuschauer sieht ihn nur schemenhaft, er spricht in einem mit durchsichtigem Seidenpapier verkleideten Gitterwagen.
In der Premiere im Sensemble glänzt „Der Mitmacher“von Friedrich Dürrenmatt mit reduzierten, dafür effektiven Requisiten (Regie: Philipp J. Neumann, Assistenz: Lisa Bühler) und schauspielerischer Hochleistung: Drei Darsteller für sieben Figuren. Nicht nur für diese, auch für die etwa 50 zugelassenen Zuschauer bedeutet das höchste Konzentration. Dafür wird man belohnt, denn meist sind bei der Rollenbesetzung die Geschlechtergrenzen aufgehoben, sodass sich heitere Fremdheiten ergeben. Heiko Dietz spielt nicht nur Cop, sondern auch die laszive Ann im lila Kleid. In der Dusche, im Bett, beim Sex.
Zu Beginn erfährt man: Doc wurde entlassen. Sein jetziger Arbeitsplatz ist eine selbst entworfene Todesfabrik. Mechanisch dreht er einen der mit Seidenpapier verkleideten Rollgitterwagen mit der Öffnung zum Publikum, setzt sich auf die Kiste darin und berichtet bei einer Brotzeit von seinem sozialen und moralischen Absturz. Wie er Boss begegnete, einem skrupellosen Mafiachef und Spezialisten für schmutzige Geschäfte. Für den vernichtet er jetzt in seiner Laborgruft Leichen im Minutentakt. Alle, die sich dem Syndikat in den Weg stellen, werden von der korrupten machtbesessenen Gang beseitigt: Staatsanwälte, Staatspräsidenten, Freunde, Familie. Boss (Birgit Linner) zahlt. Docs Anteil am Gewinn: 20 Prozent, Cop, der prollige skrupellose Polizist mit Trainingsanzug und Silberkette auf der Brust, bekommt 30 Prozent.
Eine Lastenrampe im hinteren Teil der Bühne regelt den Zugang für die Beteiligten. Im Wechsel purMaschine, zeln Leichen, Doc, Ann, Cop und Boss aus dem Schacht. Unter der Regie des Leipzigers Philipp J. Neumann steht sie für das Komödiantische in dem schweren Stoff, aber auch für das Drama. Der Schacht ist Bühnenzugang für die Lebenden und die Toten. Wie weit geht Doc in seinem Opportunismus und seiner Bequemlichkeit? Er müsste ja nicht zum Mittäter in dieser gigantischen Mordserie werden. Doch er macht mit, pulverisiert am Ende sogar seine Geliebte und seinen Sohn. Immer wieder kullern ihm die in Plastik gewickelten Leichen vor die Füße. Wie ein Roboter zerrt er sie zu seiner Nekrodialysegießt ihre Asche in den Brennofen.
Die Sprache ist knapp, ungehalten, das Stück brutal inszeniert. Die vergitterten, hohen Wäschewagen erinnern an Hotels und Pflegeheime, in denen das Personal Berge von Wäsche zur Reinigung Richtung Keller rollt, hinzu kommt das Neonlicht-Ambiente wie in einer unterirdischen Großwäscherei. Nur, dass hier keine Bettbezüge, sondern Leichen gereinigt, „dialysiert“werden. Harte Kontraste zum Geschehen auf der Bühne bringen die eingespielten Boogie-Songs der Andrew Sisters. Zwar hat auch Dürrenmatt sein Stück nicht konstant düster, sondern eher sarkastisch konzipiert, aber die Umsetzung Neumanns in Zusammenarbeit mit den Darstellern setzt eigene, mutige komödiantische Akzente, die von den Darstellern überzeugend umgesetzt werden.
Höhepunkte sind die körperlichen Auseinandersetzungen, mal aus Aggression, mal aus Liebe. Wie die leidenschaftliche Szene, in der Birgit Linner als Doc seine Ann (Heiko Dietz) durchs Labor jagt.
Vorbei am Kühlraum mit den Leichen, drückt Linner ihren Kollegen für einen Quickie gegen die Wand eines Gitterwagens und bringt es schließlich, auf dem in hohen Tönen stöhnenden Dietz liegend, zum Orgasmus. Dass Ann die Frau von Cop ist, trägt Doc am Ende allerdings seinen eigenen Tod ein.
„Ich wählte das Stück aus, weil ich die knappe, lakonische Sprache und die extremen Charaktere mag“, erklärt Regisseur Neumann im Gespräch. Auch für die heutige Wirklichkeit habe der Stoff Relevanz. „Die beim ‚Mitmacher‘ gezeigte Macht, die offene Spaltung in oben und unten und die Verschärfung der Sprache lassen sich ja vor allem in den USA beobachten“, so Neumann. Dürrenmatt kannte das Amerika der 1960er Jahre und hatte sich dessen Gesellschaft im „Mitmacher“fast schon im Stil eines dystopischen, sarkastischen Zukunftsdramas zum Vorbild genommen.
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Termine Für die Vorstellungen am 23., 24., 30. und 31. Oktober sowie am 6., 7., 13. und 14. November (jeweils 20.30 Uhr) gibt es noch Karten.