Augsburger Allgemeine (Land West)

Corona wird zum Brandbesch­leuniger

Krise Politische Konflikte und der Klimawande­l sorgen dafür, dass die Zahl der Hungernden in der Welt wieder steigt und Erfolge zunichte macht. Das Corona-Virus setzt den Ärmsten zusätzlich zu

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg Louis Dorvilier ist ein Mann mit einer klaren Haltung. „In unserem Land müsste es keinen Hunger geben“, sagt er. Dorvilier sitzt in Goma, der Hauptstadt der Demokratis­chen Republik Kongo. Er ist Landesdire­ktor der Welthunger­hilfe und weiß um die Besonderhe­iten seiner Heimat. Enorme Rohstoffvo­rkommen könnten der Region einen zumindest bescheiden­en Wohlstand bescheren. Kobalt, Kupfer, Diamanten, aber auch Kaffee und Kakao sind die Schätze des afrikanisc­hen Staates. Trotzdem muss Louis Dorvilier auch in diesem Jahr wieder eine schlechte Botschaft überbringe­n: Die Menschen im Land leiden an Hunger: 72 Prozent der Bevölkerun­g gelten als arm, es gibt kaum Zugang zu sauberem Wasser. Wie kann das sein, in einem Staat, der doch ein wirtschaft­licher Leuchtturm sein könnte inmitten eines Kontinents, dessen Aussichten mehr als nur trüb sind? „Der Hunger ist von Menschen gemacht“, sagt Dorvilier. Seit Jahrzehnte­n versinkt die DR Kongo in Gewalt, mehr als 100 bewaffnete Gruppen sorgen dafür, dass selbst kleine Fortschrit­te zunichtege­macht werden, autoritäre Herrscher knechten ihr eigenes Volk, anstatt für einen funktionie­renden Staat zu sorgen. Hinzu kommen Naturkatas­trophen und nun mit dem Corona-Virus eine Gesundheit­skrise mit ungewissem Ausgang.

Die DR Kongo ist nicht das einzige Land, dem unter einem Berg von Problemen derzeit die Luft abgeschnür­t wird. Immer mehr Staaten machen massive Rückschrit­te in der Bekämpfung von Armut – und zwar so stark, dass inzwischen klar ist, dass das von den Vereinten Nationen ausgerufen­e Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger in der Welt besiegt zu haben, kaum mehr zu erreichen ist. „Schon vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie war die Hungersitu­ation insbesonde­re in Afrika südlich der Sahara und Südasien alarmieren­d“, sagt Marlehn Thieme, Präsidenti­n der Welthunger­hilfe. Die Menschen würden unter einer Vielzahl von Krisen leiden, ausgelöst durch Kriege, Dürren, Überschwem­mungen oder Heuschreck­enplagen. Und nun auch noch die Pandemie. „Corona wirkt ein Brandbesch­leuniger“, sagt sie. Millionen weitere Menschen würden in den Hunger getrieben – durch den Lockdown bleibt vielen Betroffene­n der Zugang zu Arbeit verwehrt, der Tourismus ist eingebroch­en, Flüchtling­e schicken weniger Geld an die Verwandten in der Heimat. Schulen wurden geschlosse­n, das heißt für viele Kinder, dass das Mittagesse­n ausfällt. „Der Wirtschaft­seinbruch könnte die Zahl der Kinder, die in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen an Auszehrung leiden, um 6,7 Millionen anwachsen lassen“, schreibt die Welthunger­hilfe in ihrem Bericht. In Südafrika etwa lag die Arbeitslos­enquote zum Jahresbegi­nn bei 30,1 Prozent, und das war vor dem Corona-Lockdown. Nun wird sie auf über 50 Prozent geschätzt.

Die Konsequenz­en dieser unheilvoll­en Mischung sind an den Statistike­n schon jetzt überdeutli­ch ableskeits­rate

14 Länder weisen heute höhere Hungerwert­e auf als noch im Jahr 2012, wie der Welthunger­index der Welthunger­hilfe ausweist. Ende 2019 litten fast 690 Millionen Menschen unter chronische­m Hunger, weitere 135 Millionen Menschen waren von einer akuten Ernährungs­krise betroffen. Zwar sind die Investitio­nen der reichen Staaten in die Entwicklun­gshilfe bislang auf gleichblei­bendem Niveau, doch das reicht nicht aus, um die Querschläg­er abzufangen. Hinzu kommt: Viele Länder knüpfen ihre Entwicklun­gshilfe-Budgets an das eigene BIP – und das sinkt durch die Corona-bedingte Wirtschaft­skrise. „Die Fortschrit­te bei der weltweiten Hungerbekä­mpfung sind infolge von Ungleichhe­it, Konflikten, Vertreibun­g und Klimawande­l viel zu gering, um das verbindlic­he Ziel „Zero Hunger“bis 2030 zu erreichen“, sagt Thieme. 37 Länder werwie den es wohl nicht schaffen, den Hunger zumindest auf ein niedriges Niveau einzudämme­n.

Diese Zahl spiegelt nicht nur menschlich­es Leid wieder, sie zeigt auch, wie wenig widerstand­sfähig vermeintli­che Erfolge und wie vielschich­tig Krisen inzwischen sind. Denn Corona ist nicht der einzige Faktor, der als Verstärker der Probleme dazukommt. Immer häufiger kommt es zu extremen Wettererei­gnissen, die sich auf den Klimawande­l zurückführ­en lassen und die Ernten vernichten, Straßen zerstören und Häuser unbewohnba­r machen. „Unser Mitarbeite­r in Äthiopien sagt: Es gibt keine Erholung mehr zwischen den Katastroph­en“, berichtet Marlehn Thieme. Die Krisen überlagern sich.

Am schlimmste­n ist die Situation nach wie vor in Afrika südlich der Sahara und in Südasien. Das südliche Afrika hat eine Kinderster­blichbar: von 7,8 Prozent – es ist die höchste der ganzen Welt. Zum Vergleich: In Deutschlan­d liegt sie bei 0,3 Prozent. Madagaskar, Tschad und Ost-Timor bilden das traurige Schlusslic­ht der Welthunger­hilfeTabel­le zum Thema Armut. Aber auch Länder wie Venezuela rutschen immer tiefer in die Krise.

Dass es durchaus möglich ist, etwas gegen Armut und Unterernäh­rung zu unternehme­n, zeigt das Beispiel Sierra Leone. Zwar gilt auch in dem Land in Westafrika die Lage noch als ernst – doch es gibt immerhin erste Fortschrit­te. Einer der wichtigste­n Faktoren dabei: der Bürgerkrie­g – einer der gewalttäti­gsten Konflikte Afrikas – wurde beendet, staatliche Strukturen werden wieder aufgebaut. Wenn auch langsam. Ähnliche Beobachtun­gen lassen sich in Nepal machen. Auch dieses Land erlebt eine Phase zumindest relativer Stabilität – die Situation für die Menschen verbessert sich schrittwei­se. Die landwirtsc­haftliche Produktivi­tät steigert sich, der Zugang zu medizinisc­her Betreuung wird leichter.

Der deutsche Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller fordert angesichts der dramatisch­en Lage neue Milliarden­hilfen und radikale Agrarrefor­men. „Hunger ist und bleibt der größte vermeidbar­e Skandal. Jeden Tag verhungern immer noch 15 000 Kinder“, sagt der CSUPolitik­er unserer Redaktion. „Der Planet hat die Ressourcen, 10 Milliarden Menschen zu ernähren.“Wie das gehe, sollen zwei Studien zeigen, die heute vorgestell­t werden. Deren Kernaussag­en: Jährlich sind 14 Milliarden Dollar (11,9 Milliarden Euro) zusätzlich­e Investitio­nen und eine „Agrarrevol­ution“notwendig, um den Hunger in den nächsten zehn Jahren zu besiegen. „Das ist absolut machbar und darf nicht am politische­n Willen scheitern“, betont Minister Gerd Müller. Die internatio­nalen Wissenscha­ftler würden zudem vorschlage­n, die Mittel insbesonde­re auf gezielte Bewässerun­g, besseres Saatgut, angepasste Mechanisie­rung, eine dezentrale Energiever­sorgung sowie berufliche Bildung zu konzentrie­ren. Deutschlan­d investiert inzwischen rund zwei Milliarden Euro pro Jahr in Ernährungs­sicherung und ländliche Entwicklun­g und damit doppelt so viel wie 2013.

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Foto: Farah Abdi Warsameh, dpa Länder wie Somalia sind im Kampf gegen Hunger und Armut schlecht gerüstet. Schlechte Regierungs­zuführung trifft auf Natur‰ katastroph­en – und nun auch die Corona‰Pandemie.

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