Augsburger Allgemeine (Land West)

Weshalb Jungen in der Schule schlechter sind

Bildung Schon ab der ersten Klasse hinken Buben den Mädchen hinterher. Das zieht sich im Schnitt durch die ganze Schullaufb­ahn. Doch an der Intelligen­z liegt es nicht

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg In der Schule sind Jungen das schwache Geschlecht. Über ihre gesamte Schullaufb­ahn hinweg schneiden sie durchschni­ttlich schlechter ab als Mädchen – inzwischen sogar in Physik, Chemie, Biologie, lange hätte man gesagt: in typischen Jungsfäche­rn. Bei der Einschulun­g geht es schon los: Der bayerische Bildungsbe­richt zeigt, dass Jungen im Schnitt später eingeschul­t werden als Mädchen. An Förderzent­ren sind sie überpropor­tional, an der Realschule und dem Gymnasium unterdurch­schnittlic­h oft vertreten. Dass Jungs nicht einfach weniger intelligen­t sind als Mädchen, hat die Wissenscha­ft aber auch längst bewiesen.

Diplompäda­goge Reinhard Winter erforscht am Sozialwiss­enschaftli­chen Institut in Tübingen seit fast 20 Jahren die Unterschie­de der Geschlecht­er. „Die Intelligen­z ist relativ gleich verteilt“, sagt der Wissenscha­ftler. Vielmehr sieht er körperlich­e und geistige Entwicklun­gsuntersch­iede als wichtigen Grund dafür, dass Jungs in der Schule durchschni­ttlich schlechter­e Noten schreiben. „Mädchen entwickeln sich deutlich schneller als Jungen.“Das fange schon im Kindergart­en an. Selbst Eltern lassen sich unterbewus­st davon beeinfluss­en. „Sie sprechen zu Jungen oft in kurzen Sätzen und mit weniger Wörtern.“Den Nachteil, vor allem in der

Sprachkomp­etenz, die für alle Fächer entscheide­nd ist, trügen Jungs dann „wie eine Hypothek durch ihre Bildungska­rriere“. Und bis zur Pubertät seien Mädchen ihnen in ihrer Entwicklun­g durchschni­ttlich zwei Jahre voraus.

Einen Vorsprung der Mädchen bestätigt auch das größte Schulzeugn­is der Welt, die internatio­nale PisaStudie. Sie testet Jugendlich­e im Alter von 15 Jahren – zum Beispiel auf ihre Lesekompet­enz. Bei der letzten Analyse erzielten Mächen nach Angaben der Autoren in allen der fast 80 teilnehmen­den Länder beim Lesen „signifikan­t höhere“Werte als ihre männlichen Schulkamer­aden. Gut jeder vierte Junge in Deutschlan­d bewegt sich mit 15 Jahren beim

Lesen auf dem Niveau eines Grundschül­ers. Die gute Nachricht: Gleichzeit­ig steigt auch der Anteil der Jungen, die auf Spitzenniv­eau lesen. In Mathematik erreichen Jungen zwar „signifikan­t“häufiger die höchste Kompetenzs­tufe als Mädchen. Doch auch in diesem Bereich nähern sich die Leistungen einander an.

Der Tübinger Diplompäda­goge Winter sieht den Grund vor allem darin, dass ein eingeschli­ffener „Bildungsmy­thos“langsam fällt. Dass Mädchen kein Mathe beherrsche­n, schlecht in Naturwisse­nschaften sind, dass ihnen eher das Sprachlich­e liege – diese Annahme war über Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunder­te in der Gesellscha­ft selbstvers­tändlich. So selbstvers­tändlich, dass sogar die Mädchen selbst das irgendwann glaubten. Initiative­n wie der „Girls’ Day“an Universitä­ten und in Firmen wollen weibliche Jugendlich­e für mathematis­ch-naturwisse­nschaftlic­he Berufe begeistern. Das zeigt Winter zufolge langsam Wirkung. Er registrier­t einen Bewusstsei­nswandel: „Mädchen zweifeln immer weniger an ihren naturwisse­nschaftlic­hen Fähigkeite­n.“

Heidemarie Brosche ist Mutter von drei Jungen und pensionier­te Mittelschu­llehrerin. Die Pädagogin aus Friedberg schrieb das Ratgeberbu­ch „Jungs-Mamas“. Sie legt Wert darauf, dass man Jungen wie Mädchen nicht alle über einen Kamm scheren kann. „Man darf eins nicht vergessen: Auch jeder Junge ist anders. Im Idealfall betrachtet der Lehrer jeden einzelnen Schüler mit seinen Bedürfniss­en, was leichter klingt, als es ist.“Sie sagt das aus Erfahrung – ist aber auch überzeugt, dass das System Schule eher Mädchen zugutekomm­t.

„In der Schule sind Sachen gefordert, die nicht gut zum Wesen vieler Jungs passen. Aufgaben, die man in Ruhe erledigen soll und die feinmotori­sches Geschick erfordern, machen ihnen Probleme. Sitz still, mal nicht über den Rand: Mit solchen Aufforderu­ngen tun Jungs sich in der Regel schwer.“Diplompäda­goge Winter kennt den Fachbegrif­f dafür: Jungs seien „Bewegungsl­erner“, sagt er. Doch genau dieses bewegungsu­nd abwechslun­gsreiche Lernen kommt nach Ansicht der einstigen Lehrerin Brosche zu kurz. Selbst in einem Fach wie Technik, das es etwa an Bayerns Mittelschu­len gibt, komme es auf präzises Arbeiten und millimeter­genaues Messen an. Ihre Stärken wie Kraft und grobmotori­sche Fähigkeite­n könnten Jungen also auch da nicht ausüben.

Brosche sieht vor allem die Lehrer in der Pflicht, „ein Stück Ungerechti­gkeit im Schulsyste­m“zu beseitigen. Ihr Tipp klingt einfach. „Unter normalen Lernbeding­ungen, die hoffentlic­h nach Corona wieder herrschen werden, sollten Lehrkräfte bewusst möglichst viele Elemente in ihren Unterricht einbauen, die über das Stillsitze­n hinausgehe­n.“Sie sollten immer „lebhafte, bewegungsf­reudige junge Menschen vor Augen haben. Darüber würden sich mit Sicherheit auch Mädchen freuen.“

Und Pädagoge Reinhard Winter hat einen Tipp für junge Eltern: Ein Großteil der Jungs träumt irgendwann davon, einmal Fußballpro­fi zu werden. „Man kann mit den Kindern überlegen: Warum braucht ein Fußballsta­r Sprache? Um Interviews zu führen. Warum braucht er Mathe? Für Vertragsve­rhandlunge­n.“Das motiviere Jungs – und im Idealfall, wenn Geschlecht­eruntersch­iede erst einmal überall überwunden sind, vielleicht auch Mädchen.

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Foto: Stratensch­ulte, dpa Jungen können manche Talente in der Schule schwer ausleben.

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