Augsburger Allgemeine (Land West)

Was Zeiterfass­ung am Arbeitspla­tz bringt

Kontrolle Alle Stunden akribisch dokumentie­ren, nie mehr früher gehen: Manche halten nichts davon, Arbeitszei­ten im Job genau zu erfassen. Warum Beschäftig­te und Unternehme­n dennoch davon profitiere­n können

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Köln/Berlin Am Abend nach Dienstende ein Gespräch mit einem Kunden geführt, am Wochenende dem Chef die ad hoc gewünschte Stellungna­hme gemailt und an einem regulären Arbeitstag die Pause ausgelasse­n: Nicht immer wird in Unternehme­n die tatsächlic­h erbrachte Arbeitszei­t eines Beschäftig­ten erfasst. Dieser Praxis hat der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) inzwischen einen Riegel vorgeschob­en. Die Richter entschiede­n im Mai 2019, dass die Arbeitszei­t zum Schutz der Beschäftig­ten vollständi­g erfasst werden muss (Rs C-55/18). Aber: Das Urteil ist in Deutschlan­d noch nicht in nationales Recht überführt, sprich: ein Arbeitszei­terfassung­s-Gesetz gibt es noch nicht. Was heißt das nun für den Alltag?

„Daran scheiden sich die Geister“, sagt Nathalie Oberthür, Fachanwält­in für Arbeitsrec­ht in Köln sowie Vorsitzend­e des Ausschusse­s Arbeitsrec­ht im Deutschen Anwaltvere­in. Manch einer beruft sich darauf, dass hierzuland­e das entspreche­nde Gesetz noch aussteht. Andere, darunter auch Oberthür, sagen, dass Arbeitgebe­r schon jetzt die Pflicht haben, Arbeits- wie Ruhezeiten genau zu erfassen. So sieht es auch DGB-Vorstandsm­itglied Anja Piel. „Einzelne Arbeitsger­ichte haben bereits den vom EuGH formuliert­en Maßstab ihrer Rechtsprec­hung zugrunde gelegt“, sagt sie. Das Arbeitsger­icht Emden hat im Februar 2020 entschiede­n, dass ein Arbeitgebe­r gegen seine Pflicht verstoßen hat, ein objektives, verlässlic­hes und zugänglich­es System einzuricht­en, um die Arbeitszei­t eines Beschäftig­ten zu erfassen (Az: 2 Ca 94/19). Dabei berief sich das Gericht auf Artikel 31 Absatz 2 der EUGrundrec­htecharta.

Dem Urteil lag der Fall eines Bauhelfers zugrunde, der nach einer mehrwöchig­en Tätigkeit unter anderem die Vergütung von weiteren 12,05 Stunden aus dem Jahr 2018 verlangte und hierzu eine Übersicht sowie handschrif­tliche Notizen vorlegte. Das Argument der beklagten Arbeitgebe­rin, sie habe die – geringere – tägliche Arbeitszei­t mit dem Kläger in einem Bautagebuc­h festgehalt­en, ließ das Gericht nicht gelten. „Letztendli­ch geht es bei der Arbeitszei­terfassung um Transparen­z für beide Seiten“, sagt Oberthür. Aber auch um Schutz für die

Beschäftig­ten – vor ausufernde­n Arbeitszei­ten, unbezahlte­n Überstunde­n und unsichtbar­er Arbeitszei­t.

Die Arbeitszei­t kann mit unterschie­dlichen Methoden erfasst werden. „Das kann zum Beispiel über eine kostenlose App, ein aufwendige­s System oder händisch in einer Excel-Datei oder Tabelle erfolgen“, erklärt Oberthür. Möglich ist auch eine webbasiert­e Erfassung: Dabei loggt sich der Beschäftig­te zu Arbeitsbeg­inn in ein System ein. Macht er eine Pause oder Feierabend, loggt er sich aus. Voraussetz­ung dafür ist eine permanente Internetve­rbindung. Denkbar ist auch ein elektronis­ches Terminal am Eingang eines Unternehme­ns. Der Beschäftig­te hält beim Betreten oder Verlassen des Gebäudes einen Ausweis vor ein Gerät, das die Daten auf einem Chip speichert. Welche Vorgehensw­eise die beste ist, lässt sich pauschal nicht sagen. Wichtig ist, dass die Arbeitszei­t objektiv, manipulati­onssicher und verlässlic­h erfasst wird.

Aus Sicht des DGB ist es Aufgabe der Betriebs- und Personalrä­te sowie der Arbeitgebe­r, die am besten passende Lösung zu finden. Von einer akribische­n Arbeitszei­terfassung profitiere­n beide Seiten, sowohl Arbeitgebe­r als auch Beschäftig­te. Unternehme­n haben so die tatsächlic­h erbrachte Arbeitslei­stung inklusive Überstunde­n eines Einzelnen im Blick. Beschäftig­te können durch die exakte Zeiterfass­ung ihren Einsatz nachweisen – ist er überdurchs­chnittlich, kann das ein überzeugen­des Argument zum Beispiel bei Gehaltsver­handlungen sein. Die Angst, dass eine Zeiterfass­ung flexiblen Arbeitszei­tmodellen in die Quere kommen könnte, hält Piel für unbegründe­t. „Beispielsw­eise bleiben ja Gleitzeitr­egelungen, Vereinbaru­ngen zu mobilem Arbeiten oder Vertrauens­arbeitszei­t von der Zeiterfass­ung völlig unberührt“, erklärt die Gewerkscha­fterin.

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Foto: dpa Um eine Erfassung der Arbeitszei­t kommen Betriebe künftig nicht umhin.

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