Augsburger Allgemeine (Land West)
„Ich turne bis zur Urne“
Ina Müller hat wieder neue Lieder über sich und 55 Jahre Leben. Sie spricht über das, was ihr am Altern Angst macht, über Süchte – und über Sex
Viele Ihrer neuen Lieder sind melancholisch. Sie drehen sich um Ex-Partner, das erste halbe Mal, die Zeit, die davonfliegt, und früher, als alles leichter war. Neigen Sie dazu, die Vergangenheit zu verklären? Müller: Ich habe 55 glückliche Jahre auf dieser Welt verbracht. Zum ersten Mal fühle ich das nicht mehr so, seit es Corona gibt und sehr viele große und wichtige Länder auf der Welt von Despoten regiert werden. Früher dachten wir, es würde nie wieder Krieg geben, weil wir viel zu aufgeklärt sind. Da bin ich mir heute überhaupt nicht mehr sicher. Dieses Thema ist dann auch in das eine oder andere Lied hineingeflossen. Die Unsicherheit und die Angst. Und die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit. Die vergangenen 50 Jahre waren doch die fettesten. Es gab alles, was wir brauchten, und wenig, was wir richtig beschissen fanden. Es gab die Emanzipation, die Pille, Antibiotika, Impfstoffe. Heute kennen wir natürlich die Nachteile für die nächsten Generationen, die wir verursacht haben.
Politische Debatten werden heute sehr aggressiv geführt. Sorgt das bei Ihnen für Politiklust oder -frust?
Müller: Ich bin ganz froh, dass wir eine besonnene Angela Merkel als Kanzlerin haben. Ich bin zwar vom Virus, aber eigentlich nicht von der politischen Situation in Deutschland gefrustet. Die Regierung versucht ihre Bevölkerung zu schützen, indem sie sagt: Bitte wascht euch die Hände, tragt Masken und hört auf zu feiern! Es geht hier um ein Virus, das wir nicht kennen. Und wer sollte da auch die Verantwortung übernehmen, und sagen: „Ok, nehmt die Masken ab, lass’ laufen, mal gucken was passiert“. Die Politik? Drosten? Der Papst?
Haben alle Ihre Lieder autobiografische Bezüge oder schnappen Sie das Futter für Ihre Geschichten im Alltag oder Nachtleben auf?
Müller: Ich hatte jetzt vier Jahre Zeit, Ideen zu sammeln. Ich glaube nicht, dass ich jedes Jahr ein richtig gutes Album machen könnte. Ich habe schon über so viele Themen gesungen, da dauert es einfach länger, bis mich mal wieder etwas anspringt. Wenn dann eine gute Idee da ist, dann ist es jedes Mal wie ein Fest. Wie zum Beispiel beim Eichhörnchensong. Eichhörnchen haben ja kein Navi und vergessen direkt, wo sie die Nüsse verbuddelt haben. Und so steh ich auch manchmal in der Küche und denke: „Öööhhh …“
Sind Sie Ihrer Vergesslichkeit mal auf den Grund gegangen?
Müller: Ich habe einen Test im Netz gemacht, und der sagt, ich bin im Kopf genauso fit wie Donald Trump, der den auch gemacht hat! Aber im Ernst, ich habe echt Angst davor, im Alter tüdelig zu werden. Dass der Körper älter wird, das akzeptiere ich ja schon länger, aber ich möchte, dass mein Kopf fit bleibt.
Ihre Lieder drehen sich aber auch um den körperlichen Verschleiß. Auch eigene Erfahrungen?
Müller: Natürlich! Und über mein gespaltenes Verhältnis zum Sport konnte ich immer schon lachen und viel erzählen oder singen. Ich bin ja für jede Sportart, für die ich mich entschieden habe, auch sofort top ausgestattet. Schuhe, Stöcker, alles da. Dann gehe ich einmal hin, und dann war’s das. Und wenn ich mal 30 Minuten gelaufen bin, fühle ich einen Stolz, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir…
Wann haben Sie zuletzt rot gesehen – wie in Ihrem Lied – ein Laptop aus dem Fenster geworfen?
Müller: Zum Glück noch nie, aber wenn ich unterzuckert bin, lege ich gerne den Finger in die Wunde. Das kann ich leider ganz gut. Und was generell Zucker angeht, da neige ich echt zur Abhängigkeit. Ich esse Schokolade und Kekse, und habe direkt Linderung. Deshalb gibt es ja oft auch diesen Vergleich zwischen Zucker und Koks. Aber Koks war so schlecht singbar, deshalb singe ich: „Wie Heroin stillt der Zucker meine Nerven. “Ich habe aber zum Glück weder Koks noch Heroin je in meinem Leben ausprobiert. Bei mir ist es Zucker, Alkohol und Nikotin, und das reicht ja auch.
„Viele Feuer sind erloschen, nur eines glüht konstant – die Kippe in der Hand“. Wie wirkt Nikotin bei Ihnen? Müller: Auf jeden Fall keine klassische, körperliche Abhängigkeit. Immer wenn ich wieder angefangen habe zu rauchen, war es eine „Jetzt würde ich gerne eine rauchen“-Situation. Eine Zigarette in diesem Moment, und zu diesem Getränk. Mein Lied „Rauchen“ist aber keine Hommage an die Zigarette oder an das Rauchen an sich. Ich hab nur irgendwann festgestellt, dass ich immer mit den Rauchern abhing. In der Schule, an der Bushaltestelle, im Zug, auf Partys. Und deshalb weiß ich, dass ich auf jeden Fall heute andere Freunde und auch andere Geschichten zu erzählen hätte, hätte ich nie angefangen zu rauchen.
Wie waren Sie in Ihrer Sturm- und Drang-Zeit?
Müller: Meine Mutter nannte mich immer „Sonderling“. Ich weiß aber gar nicht genau, warum. Vielleicht, weil ich ein bisschen anders angezogen war als die Anderen. Und auch immer ein bisschen anstrengender war als die Anderen. Irgendwann wollte ich cool sein und rauchte eine mit. Die erste Zigarette war fürchterlich, aber das habe ich beim „ersten halben Mal“auch gedacht. Wenn es das ist, worüber hier seit hunderten von Jahren in den Liebesliedern gesungen wird, dann aber schönen Dank, Marie!
Wie alt waren Sie beim „ersten halben Mal“?
Müller: 17. Verklemmter Spätzünder, aber für mich genau richtig. Ich hätte nicht mit 14 Sex haben können. Das hätte mich fürs Leben verstört.
Wer hat Sie aufgeklärt?
Müller: Wir hatten in der Schule ganz klassischen Sexualkundeunterricht. Da waren ein nackter Mann und eine nackte Frau mit Kreide an die Tafel gemalt – mit den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Uns wurde der Sex erklärt und wie die Kinder gemacht werden und wie sie auf die Welt kommen. Ich erinnere mich noch, wie mich wochenlang die Frage gequält hat, was wohl passiert, wenn man beim Sex machen pinkeln muss. Das war für mich eine schlimme Vorstellung. Irgendwann habe ich mich getraut, sie zu stellen.
Welche Antwort bekamen Sie? Müller: Meine Lehrerin sagte: „Man muss nicht pinkeln, wenn man Sex hat!“Zack, war das auch geklärt.
Wo lagern Sie eigentlich all die Preise, die Sie gewonnen haben?
Müller: Sie befinden sich sicher und in feinstem Pergamentpapier eingewickelt auf meinem Schrank. Die massiven und formschönen Preise – wie die Henne und den Comedypreis – nutze ich als Türstopper. Aber wie ich auf der Platte singe: „Ich bin nicht mehr hier für Preise, ich kämpf nur noch gegen den Verschleiß“– und zwar bis an mein Lebensende. Ich turne bis zur Urne.