Augsburger Allgemeine (Land West)
Auch ohne Besuch: Intensives Theaterschauen
Folge zwei von „W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“sprengt die Ketten der analogen Bühne. Unterhaltsam, fordernd, politisch
Das Denkmalviertel wurde abgerissen. Statt zu sanieren, hat der Investor Shark Trust Tabula rasa gemacht. 10000 Wohnungen fehlen jetzt in Adelma. Architektin Laura (Friederike Pasch), die die Sanierung hätte umsetzen sollen, leidet unter Albträumen, Stress und einem schlechten Gewissen. Ihre Freundin Emma ist während des Dramas verschwunden, und ihre andere Freundin Yolanda hatte eine der jetzt abgerissenen Wohnungen gekauft. Auch das Rätsel der tausenden anderen Verschwundenen aus dieser Stadt scheint irgendwie mit dem Wohnungsmangel und dem Investor zu tun zu haben.
„W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“, das Fortsetzungsdrama um
Laura und die Stadt Adelma, ist ein innovatives, ausschließlich für ein Online-Publikum produziertes Stück, dessen Herstellung in der gesamten deutschen Theaterlandschaft Beachtung findet. Regisseur Nicola Bremer, der dieses Neuland für das Staatstheater Augsburg bearbeitet, gilt als innovativer Fachmann, der bereits für radikale Beteiligungsformate bekannt ist. Dass das Stück damit just in time auch coronakompatibel ist, ist eher ein Nebeneffekt. Denn laut Staatstheater soll die Entwicklung künstlerischer Formen für ein Online-Publikum nicht nur einfach Analoges in Digitales umwandeln und streamen, sondern mit neuen Mitteln zu einer eigenen Sparte des Hauses ausgebaut werden.
Regisseur Bremer leistet ganze
Arbeit. Schon in der ersten Folge des Adelma-Wohndramas im November erhielt das Stück, das auf einer Probebühne im Martinipark gespielt wird, viel Zulauf. Auch in der
Regisseur Nicola Bremer trägt eine Fish eyeKamera vor sich und ist die ganze Zeit über sichtbar. aktuellen, noch bis Sonntag laufenden Folge ist die Premiere nicht etwa irgendeine Momentaufnahme, sondern dauert den gesamten Produktionsprozess über viele Stunden und mehrere Tage an.
Zudem ist sie interaktiv, weil Zuschauer während der Liveproben Einwürfe machen und den Spielverlauf dadurch steuern können. Wichtigste Gadgets des Formats sind die drei mobilen Online-Kameras, die das Geschehen auf der Bühne im Martinipark filmen, und eine Fisheye-Kamera auf dem Kopf des Regisseurs. Diese überträgt jede Gesichtsverzerrung des Regisseurs live auf einer Kachel im rechten unteren Sechstel der Zuschauerbildschirme.
Der Livestream läuft über den Kanal Twitch, für den man sich unkompliziert und kostenfrei beim
Staatstheater anmelden kann. Normalerweise streamen auf diesem Kanal Computerspieler für ihr digitales Publikum. Das Staatstheater Augsburg bewegt sich dort auf neuem Terrain.
Für das Schreiben von Folge zwei begab sich Autor Bremer zunächst samt Fisheye-Kamera in eine Art Online-Isolation, wo er mit beteiligten W-Fans chattete und deren Einfälle zum Thema Wohnen in der Stadt dokumentierte. Herausgekommen ist eine bisweilen turbulente, auf jeden Fall unterhaltsame Mischung aus Komödie, Drama und Politkrimi. Maurice, Chef von Shark Trust (Thomas Prazak), will jetzt Hochhäuser auf den Trümmern des alten Viertels errichten und erteilt Laura einen neuen Auftrag. Auf der Zeitachse steht außerdem ein Kommunalwahlkampf
zwischen dem Bürgermeister ohne Namen (Anatol Käbisch) und einem Ghetto-Youtube-Blogger (Florian Gerteis) an, bei dem einer der beiden zugunsten der Wohnungsmafia in Adelma sterben muss. Zuschauer unter den Namen „Schneckenschubse“und „keinepanikgalaxy“stellen in Echtzeit über den betreuten Chat Belobigungen der Darsteller aus. Bejubelt wurde das intensiv-sprudelnde Nicht-Italienisch von Käbisch und die überraschende Stunt-Akrobatik des sterbenden Bloggers – da erübrigt sich an dieser Stelle das analoge Lob der Rezensentin.
Weitere Aufführungen sind über staatstheateraugsburg.de auf twitch.tv am Samstag und Sonntag je weils von 19 bis 22 Uhr zu verfolgen.