Augsburger Allgemeine (Land West)
„Wir jagen die Funklöcher mit Hochdruck“
Interview Telekom-Vorstandsmitglied Claudia Nemat fordert einen weiteren Technikschub, ob für Europa, die deutschen Schulen oder den eigenen Konzern. Was die Physikerin von der Politik der Physikerin Angela Merkel hält
Claudia Nemat gehört seit 2011 der Telekom-Führungsspitze an. Die 52-jährige Rheinländerin ist eine von drei Frauen im achtköpfigen Vorstand und verantwortet das Ressort Technologie und Innovation. Claudia Nemat hat Physik studiert. Medien spekulierten immer wieder, sie könne einmal einen Chefposten bei einem Dax-Konzern bekleiden. Doch ihr Vertrag bei der Telekom wurde jüngst verlängert.
Frau Nemat, wie ist es, mit einem Vater aufzuwachsen, der Atomphysiker ist?
Claudia Nemat: Das hatte in den 70er Jahren den Vorteil, dass ich nicht nur Puppen hatte, sondern auch einen Baukasten mit Widerständen. Wenn mein Vater Schaltkreise aufgebaut und herumexperimentiert hat, fand ich das sehr interessant. Mein Vater war ein Tüftler. Diese Faszination an Technologien hat sich auf mich übertragen. Ich habe mich, angeregt durch Geschichten meines Vaters, früh für Science-Fiction interessiert. So sagte mein Vater zu mir: Wenn du fast so schnell wie die Lichtgeschwindigkeit fliegst, wirst du nicht so schnell alt. Mich hat interessiert, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Was denkt die Physikerin Nemat, wenn sie die Physikerin Merkel bei der politischen Arbeit beobachtet?
Nemat: Dass sie auf Fakten setzt. Und dass sie den Rat von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einholt. Ich beobachte bei ihr wie bei mir die Sehnsucht, etwas im Detail zu verstehen. Das habe ich in den Gesprächen mit ihr bemerkt. Diese Herangehensweise von Frau Merkel an Themen ist in einer Welt, in der Menschen Meinungen für Fakten halten und Fakten als Meinungen diskreditieren, unglaublich wohltuend. Wo die Diskreditierung von Fakten hinführt, sieht man in den USA. Uns beneiden jedenfalls viele Menschen weltweit um unsere Kanzlerin.
Der populistische Brexit wurde für Europa ja leider Wirklichkeit. Sie fordern beharrlich „No Techxit“. Was meinen Sie damit?
Nemat: Unter „Techxit“verstehe ich den Ausstieg Europas aus digitaler Technologieführerschaft. Das müssen wir verhindern. Ein sehr ehrgeiziges Ziel.
Ist das nicht genauso sinnlos, wie es die Bemühungen waren, die Briten zum Verbleib in der EU zu überreden? Nemat: Weder Deutschland noch Europa dürfen sich von dem Anspruch verabschieden, auch im 21. Jahrhundert technologische Innovationen voranzubringen. Also: „No Techxit“. Und wir haben in Europa technologisch doch einiges vorzuweisen, wie das wunderbare Beispiel des in Mainz sitzenden Impfstoffherstellers Biontech zeigt.
sind in Europa zudem großartig darin, Sensoren zu entwickeln und die Industrie zu automatisieren. Der Markenname Industrie 4.0 wurde in Deutschland geprägt.
Doch Tech-Giganten wie Microsoft, Amazon, Google, Apple oder Cisco sitzen in den USA. Und der chinesische Anbieter Huawei wird immer mächtiger. Das ist ja beschämend für Europa. Nemat: Fest steht, dass wir in Europa im Vergleich zu den USA und Asien Defizite darin haben, Daten im großen Stil mit dem Einsatz von Algorithmen oder Künstlicher Intelligenz auszuwerten. Hier findet leider ein „Techxit“statt. In vielen Branchen kann kaum ein europäischer Anbieter seine Infrastruktur ohne asiatische und amerikanische Teile aufbauen. 80 Prozent der Elektronik-Komponenten stammen aus China. Die Daten europäischer Privatnutzer und -nutzerinnen sowie auch Unternehmen liegen größtenteils auf Cloud-Plattformen USamerikanischer Hersteller. Airbus ist nach wie vor das einzige überragende europäische Industrieprojekt.
Also verliert Europa das TechnologieSpiel gegen China und die USA? Nemat: Die erste Halbzeit der Digitalisierung hat Europa verloren.
Geht die zweite Halbzeit auch verloren?
Nemat: Das glaube ich nicht. Denn die nun durch die Corona-Pandemie beschleunigte Digitalisierung und die Notwendigkeit, die ökologische Krise zu meistern, also den Klimawandel aufzuhalten, setzen in Europa enorme technologische Kräfte frei. Das könnte zu einem digitalen wie ökologischen Sputnik-Faktor für Europa werden.
Sie spielen damit auf die ersten sowjetischen Satelliten an, die 1957 im Westen für Aufsehen, ja für einen Schock sorgten. Bräuchte es für so einen Sputnik-Technologieschub nicht mehr europäisches Selbstbewusstsein? Nemat: Wir sollten jedenfalls in Europa so selbstbewusst sein, unseren freiheitlichen Werten und Normen Respekt zu verschaffen, auch gegenüber Unternehmen aus China und den USA. Wir sollten die Chuzpe haben, dass jeder, der hier in Europa Geschäfte macht, sich nach unseren Spielregeln richten muss, gerade was Datenschutz und Datensouveränität betrifft. Aber auch in Bezug auf das Ziel einer mittelfristig CO2-neutralen Wirtschaft. Gerade unsere vielen mittelständischen europäischen Unternehmen müssen gegenüber internationalen Partnern entscheiden können, wie lange und für welchen Zweck sie ihre Daten teilen wollen.
Was heißt das konkret?
Nemat: Weder die totale Kommerzialisierung individueller VerhalWir tensdaten im Austausch gegen scheinbar kostenlose digitale Services noch totale Bürgerüberwachung sind für uns Europäer und Europäerinnen akzeptabel. Und wir müssen in Europa viel intensiver Schlüsseltechnologien gemeinsam entwickeln – und dabei viele Firmen, gerade auch Mittelständler, mit an Bord nehmen. Denn Schlüsseltechnologien entstehen in vielen kleinen und wenigen großen Unternehmen.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier träumt ja von europäischen Konzern-Champions. Brauchen wir in Europa einen Airbus der Technik, also eine Art Euro-Google-Huawei? Nemat: Wir müssen in Europa die Möglichkeiten schaffen, über Airbus hinaus weltweit relevante Champions zu formen. Wir sollten jetzt in Schlüsseltechnologien wie der ChipProduktion stärker werden. Und für die Zukunft müssen wir alles daransetzen, zum Beispiel bei der Wasserstoff-Technologie führend zu werden. Bei all dem ist wichtig: Wir sollten von dem Klein-Klein in Europa wegkommen und am positiven Beispiel Airbus Maß nehmen.
Sind denn unsere Daten sicher, wenn so viele Hersteller aus China und den USA mitmischen?
Nemat: Datensouveränität und Datensicherheit sind uns sehr wichtig. Darauf achten wir sehr. Hier gibt es in der öffentlichen Diskussion um
Technik aber auch Missverständnisse: Im Antennennetz etwa werden keine Daten von Nutzern und Nutzerinnen verarbeitet oder gespeichert, hier werden Daten nur von den Smartphones empfangen, ins Transportnetz und von dort ins Kernnetz weitergeleitet.
Nemat: Auf jeden Fall brauchen wir eine massive Digitalisierung der Schulen. Dazu gehören neben der Verfügbarkeit von Endgeräten ein Breitbandanschluss, ein stabiles WLAN im Schulgebäude, SchulClouds und genügend Server-Kapazitäten, damit Video-Konferenzen problemlos laufen. Bei meinen eigenen zwei Kindern habe ich zuletzt erlebt, dass solche Konferenzen immer wieder zusammenbrechen können.
Nemat: Wir wollen deutschlandweit ab 2021 im Schnitt rund zwei Millionen weitere jährlich bereitstellen. Da auch noch andere Anbieter solche Anschlüsse legen, sollten bis Ende des Jahrzehnts ganz Deutschland und damit auch alle Schulen mit Glasfaseranschlüssen versorgt sein.
Damit der digitale Wumms dann 2030 in allen Winkeln der Republik ankommt, muss die Telekom nur noch alle Funklöcher beseitigen.
Nemat: Jedes Funkloch ist eines zu viel. Wir jagen die Funklöcher mit Hochdruck.
Manche männlichen Vorstände von Dax-Konzernen beneiden nun die Telekom, weil sie die kommende Frauenquote für die Chefetage schon erfüllt, ja übererfüllt. Kann sich der Konzern jetzt zurücklehnen?
Nemat: Nein, wir sind zwar unter den Dax-Firmen, was den Frauenanteil im Vorstand betrifft, mit drei Damen ganz vorne. Aber wenn ich bei uns in die Breite des Unternehmens schaue, müssen wir weiter daran arbeiten, mehr Frauen gerade im technischen Bereich zu beschäftigen, ja noch mehr internationale Vielfalt im ganzen Konzern zu erreichen. Es kommt auch auf die richtige Balance zwischen jüngeren und älteren Mitarbeitenden an.
Der Vertrag von Telekom-Chef Timotheus Höttges ist bis 2024 verlängert worden. Wenn er einmal abtritt, wird dann eine Frau Telekom-Chefin? Nemat: Es ist viel zu früh, darüber zu spekulieren.
Interview: Stefan Stahl