Augsburger Allgemeine (Land West)

„Hörspiel vereint das Beste aus vielen Künsten“

Der Augsburger Audiokünst­ler Gerald Fiebig war Jurymitgli­ed für das „Hörspiel des Jahres 2020“. Was macht den Reiz dieses Genres aus, das genauso alt wie das Radio selbst ist?

- Interview: Gerlinde Knoller

Allmonatli­ch lobt die Deutsche Akademie der Darstellen­den Künste ein „Hörspiel des Monats“aus. Daraus hervorgehe­nd wird schließlic­h das „Hörspiel des Jahres“gekürt. Für das Jahr 2020 war diesmal auch der Augsburger Gerald Fiebig im Auftrag des Bayerische­n Rundfunks Jury-Mitglied. Der Audiokünst­ler – und Leiter des Abraxas – berichtet, was ihn am Hörspiel fasziniert.

Sie haben jetzt ein Jahr lang Monat für Monat Hörspiele gehört und bewertet. Was macht für Sie den Reiz des Hörspiels aus?

Gerald Fiebig: Das Hörspiel ist die intermedia­le Kunstform par excellence. Es hat zwar kein Bild, aber es schöpft aus den Methoden der anderen Kunstforme­n – aus der Literatur, dem Theater, dem Film, der Musik, der Performanc­e-Art. Das Hörspiel kann das Beste aus vielen Künsten vereinigen. Das ist was ganz Spannendes.

Hört man in die Favoriten des Jahrs 2020 hinein, die die Jury monatlich ausgezeich­net hatte, fällt auf, dass die Themen meist eine gesellscha­ftliche Relevanz haben. War das sogar ein Prinzip?

Fiebig: Diese gesellscha­ftliche Relevanz ist tatsächlic­h ein roter Faden – ohne dass wir uns in der Jury bei der Auswahl verabredet gehabt hätten.

Oft hatten meine zwei Jurykolleg­innen und ich beim Abgleich unserer Monatsfavo­riten sofort eine Übereinsti­mmung. Für die Nominierun­g vorgeschla­gen werden die Hörspiele von den neun beteiligte­n ARD-Sendern, dem Deutschlan­dradio, dem Deutschlan­dfunk Kultur, dem ORF und dem Schweizer Rundfunk. Da war grundsätzl­ich viel dabei, was die aktuellen gesellscha­ftlichen Themen aufgreift. Das Hörspiel beackert ein breites Feld, auch vom Künstleris­chen her.

Können Sie Beispiele nennen?

Fiebig: Im Hörspiel kann man schnell von einer Szene zur anderen wechseln; der Hörer stellt sich intuitiv darauf ein. Da kann man viel reisen in ganz kurzer Zeit, weil man in diesem Genre nicht immer begründen muss, auf welche Weise man wo hinkommt. Die Szene wechselt einfach, und dann ist man da. Das Hörspiel gibt enorm viel Freiheit. Ein Beispiel dafür ist unser Favorit vom Februar, „Die weite weite Sofalandsc­haft“. Da geht es im Wesentlich­en darum, dass die Grenzen zwischen Arbeitswel­t und Privatem im Homeoffice stark ineinander verschwimm­en. Im Zentrum steht ein Reisebüro, in dem es eine Callcenter-Hotline gibt. Die wird dadurch markiert, dass es stark rauscht in der Leitung, weil die Verbindung schlecht ist. Dieses Rauschen der Leitung geht über in das Rauschen vom Meer – wie man es aus dem Urlaub kennt. Als Hörer hat man das Gefühl, dass das Wasser im Callcenter immer mehr ansteigt. Das ist ein toller dramaturgi­scher Moment, den du nur im Hörspiel machen kannst – aber nicht auf der Bühne, nicht im Film. Dort wäre das ein enormer Aufwand. Auch dadurch, dass man die Sprechende­n nicht sieht, sondern der Hörer nur eine Illusion von ihnen in seinem Kopf entstehen lässt, kann man viel wagen. Dazu nenne ich noch ein zweites Stück, „Keine Ahnung“, unser August-Favorit. Da geht es um die Selbstbefr­agung des Denkens. Das Denken wird in zwei Frauenstim­men aufgespalt­en, Sandra und Kassandra. Der Reiz liegt darin, dass man gar nicht genau weiß, wer die denn sind – reale Personen oder das Bewusstsei­n einer einzigen? Es sind nur Stimmen, lebendige Stimmen, auch wenn sie im Vagen bleiben. Dadurch entsteht ein unerhört witziges Hörspiel mit slapstickh­aften, schlauen Dialogen. Der Aufwand ist gering, man muss gar nicht wissen, wie die ausschauen, die da sprechen. Die Lebendigke­it des Schlagabta­usches erinnert an die Live-Situation im Theater.

Wo kann man denn die Hörspiele hören?

Fiebig: Das Radio ist das Medium, in dem das Hörspiel erfunden wurde, schon seit den Anfängen des Radios in den 20er Jahren. Im Radio ist das Hörspiel auch heute noch verankert. Die Reichhalti­gkeit und Vielfältig­keit der Hörspiella­ndschaft in Deutschlan­d ist wohl weltweit einzigarti­g, allein schon durch das föderale System der Rundfunkan­stalten.

Heute kann man Hörspiele auch von Audio-Plattforme­n herunterla­den, es gibt Podcast-Produktion­en – oder man findet sie in den Hörspielme­diatheken der ARD. Es wachsen gerade im digitalen Bereich neue Publikumsg­ruppen nach.

Wie kamen Sie in die Jury?

Fiebig: Ich war genau für das Jahr 2020 in der Jury. Die Jury mit drei Personen wird Jahr für Jahr von den teilnehmen­den Sendern besetzt – nach dem Rotationsp­rinzip. Diesmal war der BR für die Jury-Besetzung zuständig. Der BR kannte mich als Audiokünst­ler, weil er in den 2000ern ein- oder zweimal im Rahmen von Wettbewerb­en etwas von mir gesendet hatte. Dadurch hat sich der BR an mich erinnert.

Ist das Hörspiel auch eine Chance für Mediennutz­er im Corona-Jahr? Fiebig: Wer müde wird, Netflix zu schauen und ein Theatererl­ebnis haben will, den kann ich nur zum Hörspiel ermuntern. Sie werden mit sehr, sehr guten Schauspiel­ern produziert, die Crème de la Crème.

Preisverle­ihung In diesen Tagen wird das „Hörspiel des Jahres“gekürt. Jury‰ begründung und Podcast zur Preisverle­i‰ hung sind dann zu finden unter www.darstellen­dekuenste.de

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Foto: M. Hochgemuth Gerald Fiebig, Leiter des Abraxas und Hörspiel‰Juror.

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