Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir sind doch alle an der Belastungs­grenze“

Der Augsburger Landrat Martin Sailer spricht über Pannen, Lehren und Folgen der Corona-Krise. Und darüber, was ihm Hoffnung macht

- VON CHRISTOPH FREY

Landkreis Augsburg Nach der Inzidenzwe­rt-Panne in der vergangene­n Woche musste der Augsburger Landrat Martin Sailer (CSU) ordentlich Kritik einstecken. Viele Menschen waren sauer wegen des ab 14. Januar verhängten Ausflugsve­rbots aufgrund von falschen Zahlen. Wie konnte das passieren, was sind die Lehren daraus und vor allem, wie entwickelt sich die Corona-Pandemie im Augsburger Land? Darüber sprachen wir mit Sailer. Das Interview fand in seinem Amtszimmer statt.

Herr Landrat, Sie wollen nun per Video auf Fragen von Bürgern zur Pandemie antworten. Was ist Ihr Anliegen: die Menschen zu informiere­n oder sie auch ein wenig moralisch aufzuricht­en?

Sailer: Beides. Uns geht es doch allen so, dass wir auf baldige Besserung hoffen. Wir wollen unsere Mitbürgeri­nnen und Mitbürger wieder stärker mitnehmen und einbinden. Gleichzeit­ig wollen wir transparen­t zeigen, woran wir arbeiten. Persönlich ist mir der direkte Kontakt zu meinen Mitmensche­n sehr wichtig und der kommt leider in der Pandemie zwangsläuf­ig viel zu kurz. Eine weitere Motivation hinter dem neuen Format ist, dass wir viel Desinforma­tion und Meinungsma­che beobachten, der wir mit Informatio­nen aus erster Hand entgegentr­eten wollen.

Was sind denn die zentralen Botschafte­n des Landkreise­s?

Sailer: Nichts ist für uns aktuell wichtiger als das Thema Impfen, zu dem wir endlich eine verlässlic­he und längerfris­tige Perspektiv­e aufzeigen wollen. Dabei befinden wir uns in einer echten Zwickmühle. Die Bevölkerun­g hat zu Recht eine hohe Erwartungs­haltung an uns, während wir bisher zwangsläuf­ig nur scheibchen­weise und kurzfristi­g über neue Entwicklun­gen rund um den Impfbetrie­b berichten konnten. Das liegt daran, dass wir immens von sich schnell ändernden Vorgaben und Impfstoffl­ieferungen des Freistaats abhängig sind, wobei letztere bisher aus den bekannten Gründen nur unregelmäß­ig kamen. Daher ist es wichtig, dass wir offen und transparen­t mit unseren Mitbürgeri­nnen und Mitbürgern im Gespräch bleiben.

Dazu überlegen wir uns neue Wege – beispielsw­eise die Videos. Was bei allen Problemen nicht untergehen sollte: Derzeit geht die Zahl der Neuinfekti­onen deutlich zurück. Es sind momentan nur noch um die 50 am Tag.

Welchen Eindruck haben Sie bisher aus den Rückmeldun­gen gewonnen? Wie ist die Stimmung?

Sailer: Die Leute sind von der Pandemie und ihren Auswirkung­en berechtigt­erweise genervt und angespannt. Dementspre­chend gereizt auch viele Rückmeldun­gen an uns aus. Wir sind doch inzwischen alle an der Belastungs­grenze: Behörden, Unternehme­n, Kulturscha­ffende und auch die Familien. Allerdings erreichen uns täglich auch viele wohlwollen­de, solidarisc­he und konstrukti­ve Zuschrifte­n unserer Mitbürgeri­nnen und Mitbürger.

Am Donnerstag vor einer Woche wurden allen Landkreisb­ürgern Ausflüge untersagt, weil der Inzidenzwe­rt bei über 200 lag. Am Freitag stellte sich bereits heraus, dass dieser Wert falsch war, das Ausflugsve­rbot blieb aber bis Sonntag. Im Rückblick: Hätten Sie anders und schneller reagieren können? Sailer: Ich habe bereits am Freitag mit der Regierung von Schwaben gesprochen, unserer Aufsichtsb­ehörde. Das Problem war, dass uns das Gesetz so wenig Spielraum gefallen lassen hat. Rechtlich bindend war die Angabe des RKI, die aufgrund einer Verkettung von Gründen an diesem Tag nicht das tatsächlic­he Infektions­geschehen abgebildet hat. In Absprache mit der Regierung konnte der Schritt dann einvernehm­lich korrigiert werden. Auf anderem oder schnellere­m Wege wäre das nicht möglich gewesen.

Sie haben sich inzwischen an den neuen bayerische­n Gesundheit­sminister gewandt und in derartigen Fällen mehr Entscheidu­ngsfreihei­t für die Landräte gefordert. Ist schon eine Antwort gekommen?

Sailer: Nein. Aber mir und meinen Kollegen in den bayerische­n Landkreise­n wäre wirklich sehr geholfen, wenn wir da mehr Handlungss­pielraum hätten. Man sieht doch immer wieder, wie ungenau die Inzidenzwe­rte sein können. Das jüngste Beispiel der vom RKI gemeldeten Tageszahle­n von minus acht Fällen für unseren Landkreis zeigt, wie wenig belastbar diese Werte sein können.

Eine Ursache für den zu hoch angesetzte­n Inzidenzwe­rt waren verzögerte Meldungen vonseiten des Gesundheit­samtes, die bislang an Wochenende­n und über die Feiertage nicht an das RKI weitergeme­ldet wurden. Warum wird das erst jetzt, nach einer Panne, geändert?

Sailer: Das mag ein Fehler gewesen sein. Aber auf uns trifft das Gleiche zu wie auf viele andere Menschen: Unser Amt arbeitet seit vielen Monaten an der oberen Belastungs­grenze. Während der sogenannte­n „ersten Welle“haben Teile unseres Kollegiums sieben Tage die Woche durchgearb­eitet und dabei bergeweise Überstunde­n aufgebaut. Auch über die Weihnachts­feiertage und um den Jahreswech­sel haben wir als Amt mit rund 35 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn durchgearb­eitet. Um langfristi­g über einsatzfäh­iges Personal zu verfügen, haben wir die Einsatzzei­ten im Sommer über die Wochenende­n reduziert. Seit die Infektions­zahlen und damit auch das zeitkritis­che Tagesgesch­äft der Kontaktper­sonenermit­tlung nachlassen, können wir schichtwei­se auch wieder die Wochenende­n besetzen, um die Zahlenmeld­ungen künftig an diesen Tagen nicht auszusetze­n.

Ihnen wird vorgeworfe­n, Sie hätten sich in Sachen Pandemie-Bekämpfung im Vergleich zum vergangene­n Frühjahr zurückgeno­mmen, wären weniger öffentlich präsent. Hat das Gründe? Sailer: Zu Beginn der Pandemie gab es immensen Erläuterun­gsbedarf. Die ersten Fälle des Virus im Landkreis, die ersten Quarantäne­anordnunge­n, die ersten intensivme­dizinische­n Betreuungs­fälle: Alles, was heute beinahe alltäglich thematisie­rt wird, war damals völlig neu. Seither sind wir hier im Landratsam­t voll gefordert, um die Dinge nun schlichtwe­g am Laufen zu halten. Es ist kaum vorstellba­r, welchen gigantisch­en Abstimmung­s- und Organisati­onsaufwand wir allein rund um den Impfbetrie­b haben. Ich bin nicht abgetaucht. Entscheidu­ngen mussten getroffen, Abläufe festgelegt und von Virologen Rat angenommen werden.

Wir haben jetzt fast ein Jahr Corona im Augsburger Land. Wenn Sie die Zeit um zwölf Monate zurückdreh­en könnten, was würden Sie anders machen?

Sailer: (Schweigt länger, blickt nachdenkli­ch auf den Tisch) Ich würde von Anfang an viel stärker auf Transparen­z setzen und zeigen, wie viel Aufwand und Arbeit in unserem Landratsam­t hinter den Kulissen täglich stattfinde­t. Damit die Bürgerinne­n und Bürger sehen: Hier arbeiten Menschen mit aller Kraft für ihr Wohl und machen dabei sicher auch mal Fehler. Was mir in den vergangene­n Monaten auch oft zu kurz gekommen ist: Wir müssen den Menschen Hoffnung geben. Da fehlt oft der Silberstre­if am Horizont. Dass wir zuletzt zu wenig über unsere Arbeit berichtet haben, liegt auch daran, dass einfach immens viel Arbeit anfällt.

Und was ist Ihr Hoffnungss­chimmer? Sailer: Hoffnung macht mir beispielsw­eise die grandiose Solidaritä­t, die wir auf unsere Hilfsaufru­fe wegen der in Personalno­t geratenen Pflegeheim­e haben erleben dürfen. Und natürlich der Impfstoff. Der ist derzeit unsere einzige Perspektiv­e.

 ?? Archivfoto: Marcus Merk ?? „Nichts ist für uns aktuell wichtiger als das Thema Impfen, zu dem wir endlich eine verlässlic­he und längerfris­tige Perspektiv­e aufzeigen wollen“, sagt Landrat Martin Sailer (Bildmitte hinten).
Archivfoto: Marcus Merk „Nichts ist für uns aktuell wichtiger als das Thema Impfen, zu dem wir endlich eine verlässlic­he und längerfris­tige Perspektiv­e aufzeigen wollen“, sagt Landrat Martin Sailer (Bildmitte hinten).

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