Augsburger Allgemeine (Land West)
Kranke Senioren sind sauer
Schwerkranke müssen auf einen Impftermin warten. Die Verzweiflung wächst. Vordrängler verschärfen die Situation. Wie das Gesundheitsministerium reagiert
Augsburg Eine „Sauerei“sei das. „Das geht einfach nicht“, sagt Lisa Steinberger und meint die Vordrängelei beim Impfen. Wie Recherchen unserer Redaktion ergaben, ließen sich Lebenspartner von Mitarbeitern in AWO-Heimen, aber auch Politiker und Bischof Bertram Meier bereits impfen. Dass Menschen, die noch nicht an der Reihe wären, gegen Corona geimpft werden, macht gerade viele Kranke fassungslos. Die 65-jährige Lisa Steinberger ist seit Jahren schwer lungenkrank, leidet unter Atemnot und ist auf eine 24-stündige Sauerstoffzufuhr angewiesen. „Trotzdem hätte ich mich nie vorgedrängelt“, sagt sie. „Denn das ist Charaktersache.“
Ihr Ehemann erwartet, dass der Gesundheitsreferent der Stadt Augsburg, Reiner Erben, klar Stellung bezieht und bei den Vordränglern „durchgreift“. „Oder gibt es für die Verantwortlichen nur eine Rüge und sie werden dann auf einen anderen Posten gesetzt, ohne irgendeine Bestrafung?“
So wie dem Ehepaar geht es vielen: Auch schwer kranke Menschen müssen sich in Geduld üben, obwohl sie hoch gefährdet sind, an Covid-19 zu erkranken. Als „einfach ungerecht“bezeichnet ein 67-jähriger Mann das Vordrängeln – wie viele andere will er aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er, der einen Schwerbehindertenausweis hat und von seiner Ehefrau gepflegt wird, müsse doch auch Geduld haben. Das falle keinem leicht. Ein an Krebs erkrankter 74-Jähriger, der palliativ versorgt wird, sagt: „Mir läuft die Zeit davon.“Doch es gehe ihm nicht nur um sich. Vor allem wolle er niemanden anstecken. Einem 76-Jährigen hört man seine Verzweiflung an. Seit 20 Jahren pflegt er seine an Demenz und Parkinson erkrankte Frau. Eine Impfung gegen Corona wäre sehr wichtig, doch wann die beiden dran sind – „keiner kann es uns sagen – aber wir sind ja auch nicht prominent“, sagt er verbittert mit Blick auf die Vordrängler. „Da bin ich sauer.“
Franz Wölfl, Vorsitzender der Bayerischen Seniorenvertretung, weiß, dass viele schwer kranke ältere Menschen sehnsüchtig auf einen Impftermin warten. „Die Angst gerade der Senioren, sich mit dem Virus zu infizieren, ist sehr groß.“Das Verhalten der Vordrängler kann er nicht verstehen: „Das kann man doch nicht machen. So viel Charakter muss man doch haben, hier zu warten“, sagt der 72-Jährige. Da auch immer wieder Impfdosen übrig bleiben, muss es seiner Ansicht nach eine Selbstverständlichkeit sein, dass jedes Impfzentrum einen festen Notfallplan mit einer Telefonliste von schwerst kranken Menschen hat, die dann vorrangig angerufen und geimpft werden können.
Wölfl empört aber nicht nur das Verhalten der Vordrängler, sondern auch eine andere Diskussion: Immer wieder höre er, dass Hochbetagte oder schwer kranke Senioren gar keine Impfung mehr bräuchten, da sie ohnehin bald sterben würden. „So einer Denkweise muss entschieden widersprochen werden“, betont er und ergänzt: „Die Würde des Menschen gilt für alle und in jedem Alter. Auch wenn ein Mensch vielleicht nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, dann hat er ein Recht auf dieses halbe Jahr. In dieser Diskussion wird die Menschenwürde mit Füßen getreten.“
Wie groß die Verzweiflung ist und wie viele schwer kranke Menschen auf einen Impftermin warten, weiß man auch im Landratsamt Augsburg. „Uns erreichen so viele flehentliche Bitten, uns rufen so viele Menschen an“, sagt Jens Reitlinger, Sprecher des Landratsamtes Augsburg. Landrat Martin Sailer reagierte daher sofort, als die Ständige Impfkommission mitteilte, dass man Schwerstkranke priorisieren dürfe. Am 22. Januar tagte zum ersten Mal die Einzelfallkommission des Landratsamtes Augsburg. Seitdem wurden nach Angaben von Reitlinger 1029 Anträge bearbeitet. Rund zehn Prozent davon habe man priorisieren können. „Es sind also wirklich nur Einzelfälle.“Und die Auswahl verlaufe nach strengen medizinischen und juristischen Kriterien ab. Die sechsköpfige Kommission aus Medizinern und Juristen unter der Leitung von Landrat Sailer treffe sich einmal in der Woche und könne nur Anträge von Bürgern aus dem Landkreis Augsburg bearbeiten. Auch erlaube es die Rechtslage der Kommission momentan nur, innerhalb der impfberechtigten Gruppe zu priorisieren: Das heißt, es können derzeit nur Anträge von Menschen über 80 Jahren oder von Bewohnern stationärer Pflege- und Behinderteneinrichtungen berücksichtigt werden. Wann auch unter 80-Jährige priorisiert werden können, hängt laut Reitlinger „maßgeblich von den uns zugestellten Impfstoffmengen ab, die wir nicht zuverlässig prognostizieren können“. Auf Nachfrage unserer Redaktion beim bayerischen Gesundheitsministerium, warum man nicht im gesamten Freistaat solche Einzelfallkommissionen einrichtet, heißt es: „Eine neue Bayerische Impfkommission soll in Kürze am Klinikum der Universität München (LMU) angesiedelt werden.“Diese Kommission soll „sachgerechte und medizinisch fundierte Einzelfallentscheidungen zur Impf-Priorisierung treffen“. Bürgerinnen und Bürger, die der Ansicht sind, ihre Erkrankung sei in der Verordnung nicht angemessen abgebildet, könnten einen Antrag stellen. Da weitere, teilweise seltene Krankheiten ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf bei einer Covid-19-Erkrankung bergen, „bedarf es im Einzelfall einer konkreten ärztlichen Prüfung“. Die neue Impfkommission werde dann für bisher nicht priorisierte Berechtigte ein ärztliches Attest erstellen, mit dem sie sich zur Impfung anmelden können.
Die schwer lungenkranke Lisa Steinberger würde gerne eine Priorisierung erwirken. „Meine Krankheit ist sehr selten und die Lebenserwartung nicht hoch“, erzählt sie. „Ich möchte doch einfach nur meine Enkelkinder wieder sehen – wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“
Einzelfallkommission hilft im Landkreis Augsburg